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Maschinen lernen, Schmerz zu verstehen
Bioinformatik-Programm aus Marburg wertet physiologische Experimente aus
Eine Forschungsgruppe aus Marburg und Frankfurt hat ein selbstlernendes Computerprogramm eingesetzt, um Schmerzexperimente auszuwerten, die große Datenmengen liefern. Wie das Team in der Titelgeschichte des Fachblatts „Pain“ schreibt, lassen sich komplexe Informationen aus Schmerzversuchen mit maschinellem Lernen strukturiert und anschaulich darstellen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um den Informatiker Professor Dr. Alfred Ultsch von der Philipps-Universität wollen den neuartigen Ansatz künftig auch für klinische Untersuchungen chronisch kranker Menschen einsetzen.
Jeder kennt Schmerzen, aber aus Sicht der Schmerzforschung ist das Phänomen wegen seiner Komplexität schwer zu erfassen. Wenn man einen Sonnenbrand hat, tut sogar die Berührung der Bettdecke weh. Und Wärmesalbe, auf einen steifen Nacken aufgetragen, fängt unter der Dusche höllisch an zu brennen. Ebenso können Menschen mit chronischen Schmerzen empfindlicher auf Druck oder Wärme reagieren als Gesunde. Aber wie kann man diese subjektiven Empfindungen objektivieren, so dass man sie besser behandeln kann?
Um das herauszufinden, haben die Forscherinnen und Forscher ein Schmerzmodell entwickelt. „Indem wir gesunde Probanden verschiedenen Reizen wie Druck, Hitze oder Kälte aussetzen und anschließend die Schmerzschwelle bestimmen, können wir klinischen Schmerz unter Laborbedingungen nachbilden“, erklärt Mitverfasser Professor Dr. Jörn Lötsch von der Frankfurter Goethe-Universität.
Mit ultravioletten Strahlen erzeugten Lötsch und seine Arbeitsgruppe bei 82 Probanden Mikrosonnenbrände auf etwa einem Quadratzentimeter der Haut und trugen an anderen Stellen Capsaicin-Salbe auf. Capsaicin kommt in Chili-Schoten vor und ist der Hauptwirkstoff vieler Wärmesalben. Beide Maßnahmen führen zu lokal begrenzten Schädigungen des Gewebes und senken damit die Schmerzschwelle. Nun probierte das Team systematisch aus, wie viel empfindlicher die Betroffenen reagierten, wenn sie an diesen Stellen zusätzlich gewärmt, gekühlt, gedrückt oder gestochen wurden. Die Probandinnen und Probanden sollten sagen, ab welcher Temperatur oder welchem Druck sie den allmählich gesteigerten Reiz spürten und wann er unangenehm wurde.
Die so gewonnenen 2460 Messdaten analysierten und strukturierten Lötsch und Ultsch nun mithilfe des maschinellen Lernens. Das sich selbst organisierende Programm fand wie erwartet, dass der Mikrosonnenbrand alle Betroffenen für Hitze empfindlicher machte. Ebenso reagierten sie stärker auf Kältereize. Nach der Vorbehandlung mit Capsaicin war den Probandinnen und Probanden Hitze ebenfalls unangenehmer als zuvor. Bei der computergestützten Analyse gab es jedoch eine Überraschung: Es kristallisierten sich bei der Druckempfindlichkeit nach Behandlung mit Capsaicin zwei Untergruppen heraus, die sich durch ihr Geschlecht unterscheiden: Frauen reagierten auf Druck empfindlicher als Männer.
„Die Studie war ein Methoden-Test“, erklärt Ultsch. Das Ergebnis ist eine dreidimensionale Darstellung, die nun das Titelblatt der weltweit führenden Fachzeitschrift „Pain“ ziert.
Mithilfe des neuen Ansatzes wollen die Forscherinnen und Forscher nun auch klinische Daten chronisch kranker Menschen untersuchen. Sie hoffen insbesondere, herausfinden zu können, wie man Patientinnen und Patienten helfen kann, bei denen die Schmerztherapie nicht zufriedenstellend funktioniert. (Pressetext: Tobias Lang, Goethe-Universität)
Originalveröffentlichung: Jörn Lötsch & al.: QST response patterns to capsaicin- and UV-B-induced local skin hypersensitization in healthy subjects: a machine-learned analysis. Pain 2018, DOI: 10.1097/j.pain.0000000000001008, URL: http://journals.lww.com/pain/pages/currenttoc.aspx