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Weltweit erste erfolgreiche Therapieversuche bei Erbkrankheit Ektodermale Dysplasie
Drei Kinder dank vorgeburtlicher Proteinspritze außer Lebensgefahr
26.04.2018 Eines von 30.000 Kindern erkrankt an Ektodermaler Dysplasie. Die blassen Kinder mit den spitzen Zähnen fallen durch ihr Äußeres auf: Sie sehen aus wie kleine Vampire. Doch viel schwerer wiegen ihre körperlichen Defizite, allen voran die fehlenden Schweißdrüsen. Betroffene Kinder können nicht schwitzen und drohen an einer Überhitzung zu sterben. Im Rahmen vorgeburtlicher Heilversuche hat ein Ärzteteam um Prof. Dr. Holm Schneider von der Kinder- und Jugendklinik (Direktor: Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Rascher) des Universitätsklinikums Erlangen diese Erbkrankheit durch eine Proteinspritze ins Fruchtwasser der werdenden Mutter korrigiert. Die Ergebnisse der erfolgreichen Heilversuche wurden jetzt im renommierten New England Journal of Medicine veröffentlicht.
Joshua, der fünfjährige Sohn von Corinna und Tobias T. aus der Nähe von Bremen, leidet unter der Erbkrankheit Ektodermale Dysplasie. Joshua hat nur drei spitze Zähne, kaum Haare, eine blasse, trockene Haut – und er kann nicht schwitzen. Ist die Umgebung zu warm, legt sich Joshua reflexartig auf den kalten Fußboden. Denn: Die Überwärmung seines Körpers könnte für ihn tödlich sein. Als Joshuas Eltern die Krankheit erkannten und erfuhren, dass Corinna T. Trägerin des Gendefekts ist, standen sie vor der Frage: Wollen wir ein zweites Kind? Das Risiko, erneut ein Baby mit Ektodermaler Dysplasie zu bekommen, lag bei 50:50.
Dann wurde Corinna T. mit Zwillingen schwanger. Die traurige Gewissheit: Auch sie würden krank sein. „Es tut uns leid, wir haben nur zwei Zahnanlagen gesehen“, sagte der Frauenarzt nach dem Feinultraschall. Über eine Selbsthilfegruppe stand das Paar bereits in Kontakt mit den Experten für Ektodermale Dysplasie am Uni-Klinikum Erlangen. Um den Zwillingen Linus und Maarten ein besseres Leben zu ermöglichen, entschlossen sich Corinna und Tobias T. zum weltweit ersten Heilversuch im Mutterleib. „Wir hatten nichts zu verlieren. Irgendwer muss ja Vorreiter sein“, sagt Corinna T. Die Behandlung wurde im Februar 2016 von Prof. Dr. Holm Schneider, Oberarzt der Kinderklinik und Sprecher des Zentrums für Ektodermale Dysplasien Erlangen, und Oberarzt PD Dr. Florian Faschingbauer von der Frauenklinik (Direktor: Prof. Dr. Matthias W. Beckmann) des Uni-Klinikums Erlangen durchgeführt.
Proteinersatztherapie im Mutterleib
Ektodysplasin A1 (EDA1) ist ein Protein, das normalerweise im Körper vorkommt. Während der Entwicklung des Kindes im Mutterleib sorgt es dafür, dass sich Haare, Zähne und Hautanhangsgebilde wie die Schweißdrüsen bilden. Föten mit X-chromosomaler Hypohidrotischer Ektodermaler Dysplasie (XLHED) fehlt das EDA1-Protein – so auch bei den Zwillingen Linus und Maarten.
Im Rahmen des erfolgreichen Heilversuchs am Uni-Klinikum Erlangen haben Prof. Schneider und PD Faschingbauer ein Ersatzprotein in die Gebärmutter von Corinna T. injiziert: zuerst in die Fruchthöhlen der beiden Zwillinge, jeweils in der 26. Schwangerschaftswoche, ein zweites Mal 39 Tage später. Einen dritten Jungen behandelten die Erlanger Ärzte nur einmal: im Alter von 26 Schwangerschaftswochen. Unter Ultraschallkontrolle spritzte PD Faschingbauer jeweils 15 ml des Medikaments vorsichtig in die flüssigkeitsgefüllte Fruchtblase, ohne den Fötus zu berühren. Die ungeborenen Kinder schluckten das Protein mit dem Fruchtwasser und nahmen es über ihren Darm in den eigenen Blutkreislauf auf. „Das Medikament würde über den Blutkreislauf der Mutter nicht in den Körper des Kindes gelangen, weil es die Plazentaschranke nicht überwindet – also den Gewebefilter, der den mütterlichen vom kindlichen Blutkreislauf trennt“, erklärt Prof. Schneider. „Die einzige Möglichkeit, dass EDA1 den Blutkreislauf des ungeborenen Kindes erreicht, war deshalb die direkte Gabe ins Fruchtwasser.“ EDA1 allein genügt jedoch nicht. Das eigentlich Geniale an der neuen Behandlungsmethode ist nämlich das Vehikel, mit dem das Ersatzprotein in den Blutkreislauf transportiert wird: die sogenannte Fc-Komponente menschlicher Antikörper. Für diese existiert im kindlichen Darm ein spezieller Aufnahmemechanismus, der bei Säuglingen dafür sorgt, dass Antikörper aus der Muttermilch ins Blut des Kindes gelangen. Diesen Mechanismus nutzten Prof. Schneider und seine Kollegen, um das therapeutische Protein im Huckepackverfahren mit einzuschleusen.
Bei allen drei im Mutterleib behandelten Kindern bildeten sich dank der Proteininjektion Schweißdrüsen und zusätzliche Zahnanlagen. Bei dem einzelnen Jungen hat sich die Schweißproduktion nach der Geburt ausreichend entwickelt. Die Zwillinge Linus und Maarten schwitzen sogar wie gesunde Kinder – das haben Prof. Schneiders regelmäßige Messungen im Abstand von acht bis zwölf Wochen sowie mikroskopische Aufnahmen der Schweißdrüsen belegt. „Am anschaulichsten war wohl das Foto einer nassgeschwitzten Babyschale, das Corinna T. mir einige Monate nach der Geburt der Zwillinge zuschickte. So etwas kannte sie von ihrem Sohn Joshua ja nicht“, sagt Holm Schneider. „Und wer schwitzen kann, der darf auch rennen – nach Herzenslust“, wie es die beiden bald Zweijährigen inzwischen tun.
Dank des Heilversuchs haben die drei behandelten Kinder auch deutlich mehr Zähne als ihre unbehandelten älteren Geschwister mit Ektodermaler Dysplasie. „Wir haben das EDA1-Protein jahrelang erforscht und das Medikament in klinischen Studien getestet“, erklärt Prof. Schneider. „Die letzte Studie, in der das Protein erkrankten Neugeborenen verabreicht wurde, hat uns gezeigt, dass wir nach der Geburt die Entwicklung von Schweißdrüsen nicht mehr beeinflussen können. Unsere Schlussfolgerung war: Die Behandlung muss im Mutterleib erfolgen – sonst ist es zu spät.“ Der Therapieerfolg gibt den Erlanger Ärzten Recht: Für die drei behandelten Kinder besteht nun nicht mehr die Gefahr, an einer Überwärmung zu sterben – ein Schicksal, das Kinder mit XLHED immer wieder trifft.
Müttern, die Überträgerinnen dieser Form der Ektodermalen Dysplasie sind, bietet das neue Verfahren wahrscheinlich die Möglichkeit, Nachwuchs zu bekommen, der die gravierendsten Symptome der Erkrankung nicht mehr zeigt. Für die betroffenen Familien bedeutet das einen enormen Zugewinn an Lebensqualität. Außerdem könnten Proteinersatztherapien im Mutterleib künftig vielleicht auch bei anderen fetalen Entwicklungsstörungen, zum Beispiel bei Spaltbildungen im Gesicht, angewandt werden.
Strenge ethische Anforderungen – multizentrische klinische Studie folgt
Die am Uni-Klinikum Erlangen durchgeführte Behandlung fand noch nicht im Rahmen einer klinischen Studie statt, sondern „nur“ als medizinischer Heilversuch an drei Kindern. Dabei galten strenge ethische Auflagen. „Wir wollten das Protein früh genug in der Schwangerschaft injizieren, um noch Einfluss auf die Entwicklung von Schweißdrüsen und Zähnen nehmen zu können“, erläutert Prof. Schneider. „Andererseits wollten wir den Zeitpunkt der Injektion so weit wie möglich nach hinten schieben, um keinesfalls eine extreme Frühgeburt auszulösen, die das Leben der Kinder gefährden könnte.“ Die Schweißdrüsen bilden sich beim Fötus zwischen der 20. und der 30. Schwangerschaftswoche. Nach ausführlichen Abwägungen und Beratungen mit dem klinischen Ethikkomitee des Uni-Klinikums Erlangen wurde die 26. Schwangerschaftswoche als frühestmöglicher Zeitpunkt für eine Injektion festgesetzt.
Linus und Maarten wurden in der 33. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt entbunden, der dritte vorgeburtlich behandelte Junge kam in der 39. Woche zur Welt. Alle drei Kinder haben deutlich von der Therapie im Mutterleib profitiert. „Wir wollen jetzt gemeinsam mit anderen Zentren in Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine klinische Studie an einer größeren Gruppe von ungeborenen Kindern anschließen, um die positiven Effekte der intrauterinen Therapie zu belegen“, kündigt Prof. Schneider an. Dabei kooperieren die Erlanger Experten mit der gemeinnützigen Schweizer Stiftung EspeRare, die Medikamente für die Behandlung seltener Erkrankungen entwickelt.
Prof. Schneider betreut und behandelt Kinder und Jugendliche mit Ektodermaler Dysplasie seit fast 20 Jahren. Er klärt Eltern darüber auf, wie sie ihr krankes Kind vor einem Hitzschlag schützen können, wie man am besten mit ständig verstopften Nasen und Ohren, häufigen Infektionen und trockenen Augen umgeht und wie sich die fehlenden Zähne Betroffener durch Prothesen oder mithilfe von Implantaten ersetzen lassen. Er weiß: „Das besondere äußere Erscheinungsbild der Patienten ist nicht das Hauptproblem. Schwerer wiegen die Lebensgefahr durch Überhitzung und die großen Einbußen an Lebensqualität, die mit der gestörten Temperaturregulation einhergehen. Nicht schwitzen können, so hat es einer meiner Patienten erklärt, ‚das ist wie Fahren mit einem Motor ohne Kühlung.’“ Mit der pränatalen Proteinersatztherapie haben Prof. Schneider und seine Kollegen nach jahrzehntelanger Vorarbeit nun eine erbliche Entwicklungsstörung korrigiert, die bislang unheilbar war.
Hintergrund: Ektodermale Dysplasien
Ektodermale Dysplasien sind vererbte Gendefekte. Sie rufen Fehlbildungen (Dysplasien) an denjenigen Strukturen hervor, die vom Ektoderm abstammen. Dabei handelt es sich um das äußere Keimblatt des Embryos, aus dem die Haut und ihre Anhangsgebilde entstehen. Von Fehlbildungen betroffen sind u. a. Haut, Schweiß-, Talg- und Duftdrüsen, Haare, Nägel, Zähne, Brustdrüsen und die Augenlider.
Es gibt über 150 Arten der Ektodermalen Dysplasie. In 80 bis 90 Prozent der Fälle liegt eine X-chromosomal vererbte Hypohidrotische Ektodermale Dysplasie (XLHED) vor. Bei den Erkrankten ist das Gen EDA, das sich auf dem X-Chromosom befindet, mutiert. Weil Jungen nur ein X-Chromosom besitzen, sind sie schwerer betroffen als Mädchen, die neben dem kranken noch ein gesundes X-Chromosom haben. Entsprechend dem X-chromosomalen Erbgang gilt: Ist der Vater (ein X-Chromosom) von XLHED betroffen, sind seine Söhne immer gesund, aber jede seiner Töchter trägt den Gendefekt. Ist die Mutter (zwei X-Chromosomen) erkrankt, haben ihre Söhne und Töchter den Gendefekt mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit.
Menschen mit XLHED fallen durch typische äußerliche Merkmale auf: wenige, häufig spitz zulaufende Zähne, tiefliegende, abstehende Ohren, fehlende Wimpern und Augenbrauen, dünnes, kaum pigmentiertes Haupthaar, schuppige, extrem trockene Haut, dunkle Augenschatten und ein eingesunkener Nasenrücken. Das Fehlen der Schweißdrüsen bedeutet für die Betroffenen Lebensgefahr, vor allem bis zum Alter von zwei Jahren: „Kleine Kinder können noch nicht selbst für Abkühlung sorgen – zum Beispiel, wenn sie schutzlos der Sonne ausgesetzt sind, im Sommer draußen herumtollen oder sich in einem aufgeheizten Raum oder Fahrzeug befinden. Die Gefahr eines lebensbedrohlichen Hitzschlags ist dann groß“, sagt Prof. Schneider. Fehlende Zahnanlagen beim Fötus geben einen deutlichen Hinweis auf Ektodermale Dysplasie. Die Zahnanlagen können im Mutterleib schon ab der 19. Schwangerschaftswoche ausgezählt werden. In Verbindung mit einem Gentest der Eltern lässt sich die Erbkrankheit so frühzeitig nachweisen.