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Erste spezifische Therapie gegen erblich bedingten Muskelschwund jetzt auch am Uni-Klinikum Bonn möglich
Hilfe gegen den Untergang von Nervenzellen
Aufgrund einer seltenen, aber verhängnisvollen Nervenkrankheit können die Zwillingsschwestern Claudia und Ilona nicht allein sitzen, geschweige denn gehen. Sie haben von Geburt an eine schwere Grunderkrankung namens Spinale Muskelatrophie (SMA) auf ihren Weg mitbekommen. Bei dieser Erbkrankheit sterben Nervenzellen im Rückenmark ab, die die Muskeln steuern. Dies führt zu einer schweren, fortschreitenden Schwäche der Muskulatur. Heimatnahe Hilfe fanden die Zwillinge jetzt am Universitätsklinikum Bonn. Denn die dortige Motoneuronambulanz der Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen und Gerontopsychiatrie bietet jetzt erwachsenen SMA-Betroffenen eine Behandlung mit dem erst seit etwa einem Jahr in Europa zugelassenen Wirkstoff Nusinersen an. Es ist bisher die einzige spezifische Therapie für die häufigste Form der SMA. Bei ganz jungen Patienten kann sie die Symptome und das Überleben signifikant verbessern.
Sie lernten nie sitzen und laufen: Die eineiigen Zwillinge Claudia und Ilona waren 16 Monate, als bei ihnen endgültig die schwerste Form der Spinalen Muskelatrophie diagnostiziert wurde. Bei der vererbbaren neurodegenerativen Erkrankung gehen motorische Nervenzellen vor allem im Rückenmark nach und nach unter. So können Impulse vom Gehirn nicht an die Muskeln weitergegeben werden. Das führt zu einem fortschreitenden Abbau und Schwäche der Muskulatur. „SMA ist die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter. Die meisten Kleinkinder haben bisher die Diagnose nicht um mehr als zwei Jahre überlebt“, sagt PD Dr. Patrick Weydt, Leiter der Motoneuronambulanz an der Bonner Universitätsklinik für Neurodegenerative Erkrankungen und Gerontopsychiatrie. „Es ist erstaunlich, dass unsere ersten beiden Patientinnen, die die Therapie mit Nusinersen erhalten, vor kurzem gemeinsam ihren 50. Geburtstag feiern konnten.“
„Pure doppelte Freude am Leben sowie viel Glück und infantiler Trotz“
„Trotz fast kompletter Muskellähmung leben wir ein bewegtes und fast normales Leben“, sagt Ilona, die an der Bonner Universität das Psychologie-Studium sowie das Grundstudium in Medizin erfolgreich absolvierte. Ihre Schwester Claudia studierte Jura an der Universität Bonn bis zum 1. Staatsexamen. „Denn wir haben früh gelernt, uns möglichst viel selbst anzueignen, um es maximal zu nutzen und uns möglichst immer selbst helfen zu können.“ So meistern die berufstätigen Zwillinge bis heute ihr Leben dank moderner Technik, Arbeitgebermodell im eigenem Pflegebetrieb und viel Kreativität. Beispielsweise sind die speziellen Elektrorollstühle mit Korsett, Kopfstütze, Beatmungsgerät, PC-Augensteuerung und Sprachcomputer-Systemen zum Teil nach ihren eigenen Ideen und Entwürfen angefertigt worden.
„Es ist ein Privileg, die erste Therapie selbst erleben zu dürfen“
Für beide ist es eine organisatorische, logistische und kräftemäßige Erleichterung, die Anfang Juni 2017 in Ulm begonnene, regelmäßig durchzuführende Therapie mit Nusinersen jetzt an ihrem Wohnort Bonn fortführen zu können. Die Behandlung erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen von Neurologen, Neuroradiologen und Anästhesisten und kann nur an spezialisierten Zentren wie dem Universitätsklinikum Bonn stationär durchgeführt werden. Dabei wird das Medikament auf der Höhe der unteren Lendenwirbelsäule in die das zentrale Nervensystem umgebende Flüssigkeit – fachsprachlich Liquor – injiziert. „Die Patienten sind sehr zerbrechlich und die Gabe muss sehr behutsam sein. Gerade bei den Zwillingen müssen wir zusätzlich aufgrund der vorhandenen Rückgratverkrümmung sehr gut aufpassen und das geht nur unter CT-Kontrolle“, sagt Weydt. Die relativ teure Behandlung mit dem Wirkstoff Nusinersen ist jetzt in der Bonner Motoneuronambulanz möglich – dank des guten Zusammenwirkens der Verwaltung und der Kostenträger. Hinzukommen die neuen stationären Möglichkeiten im kürzlich eröffneten NPP-Gebäude sowie das besondere Profil des Standortes Bonn für seltene und neurodegenerative Erkrankungen. So stehen bereits zehn weitere erwachsene Patienten auf der Warteliste.
Meilenstein in der Therapie erblicher neurodegenerativer Erkrankungen
Ursache der spinalen Muskelatrophie ist eine Mutation im Survival-of-Motor-Neuron-1-Gen (SMN1). Dadurch wird das SMN-Protein nicht produziert und in Folge sterben die Motoneuronen im Rückenmark ab. Patienten können den Gendefekt nur aufgrund der niedrigen SMN-Produktion durch ein intaktes SMN2-Gen überleben. Der Wirkstoff Nusinersen beeinflusst das SMN2-Gen so, dass es die Funktion des SMN1-Gens übernimmt und damit der SMN-Proteinspiegel signifikant steigt. Es ist die erste spezifische Therapie bei Spinaler Muskelatrophie. Laut Studienlage überleben die meisten betroffenen Kinder bei frühzeitiger Behandlung; auch können viele mit der Zeit sogar selbstständig sitzen und gehen.
„Es ist das erste Mal, dass ein Gendefekt in Nervenzellen korrigiert werden kann“, sagt Weydt. Dies lasse ermutigende Rückschlüsse auf ALS, erbliche Alzheimer- Varianten und Morbus Huntington zu. Zudem hofft der Experte, dass Nusinersen auch bei Erwachsenen funktioniert: „Ob es wirkt, können wir aber erst etwa in zwei Jahren beurteilen.“ Die Zwillinge Claudia und Ilona sehen es als eine große Chance. „Wir erwarten „nichts“, aber hoffen alles – Stillstand der Krankheit bis dahin, dass wir wieder mehr als nur noch die Augen bewegen können. 50 Jahre als ‚SMArty’ haben unsere Muskeln geschrumpft und uns lahm gelegt, und die Schwerkraft hat unseren Körper geformt“, sagt Claudia, die wie ihre Schwester hofft und bereits erlebt, dass die molekulare Medizin die Überlebensfähigkeit noch lebender Motoneuronen im Rückenmark und dadurch zumindest eine minimale Restmuskelaktivität erhalten beziehungsweise neue fördern kann.