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Die Qual der Wahl – was im Gehirn passiert. Aktuell publiziert in Nature Human Behaviour.

Wer kennt es nicht? Zu viele Auswahlmöglichkeiten beim Kauf eines Produktes führen zu einem Gefühl, das wir als „Qual der Wahl“ bezeichnen. Ein Team um den Tübinger Wissenschaftler Dr. Axel Lindner von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung hat nun herausgefunden, was bei der „Qual der Wahl“ im Gehirn vor sich geht.

Tübingen, 01.10.2018 – Wer kennt es nicht? Zu viele Auswahlmöglichkeiten beim Kauf eines Produktes führen zu einem Gefühl, das wir als „Qual der Wahl“ bezeichnen. Schon länger ist durch wissenschaftliche Untersuchungen bekannt, dass Konsumenten eine große Auswahl an Produkten zwar attraktiv finden, aber sich zunehmend schwer mit der Entscheidung tun. Ein Team um den Tübinger Wissenschaftler Dr. Axel Lindner von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung hat nun herausgefunden, was bei der „Qual der Wahl“ im Gehirn vor sich geht. Die Gehirnaktivität in bestimmten Arealen war immer dann am höchsten, wenn die bevorzugte mittlere Anzahl von Möglichkeiten zur Wahl stand. Wird die Auswahl zu groß, übersteigt der Aufwand für die Entscheidung den Nutzen, die Aktivität sinkt, und es entsteht „Qual der Wahl“. Das subjektive Empfinden von „Qual der Wahl“ kann damit objektiv fassbar gemacht werden. Wissen darüber, wie das Verhältnis von Aufwand und Nutzen vom Gehirn berechnet wird, könnte nicht nur für das bessere Verständnis von Entscheidungsprozessen, z.B. beim nächsten Einkauf, relevant sein, sondern auch helfen, einzelne Symptome neuropsychiatrischer Erkrankungen besser zu erklären.

Die Anzahl an Produkten, die uns in unserer konsumorientierten Gesellschaft zur Verfügung steht, wächst stetig. So scheint es möglich, die unterschiedlichsten Bedürfnisse Einzelner optimal zu befriedigen. Spätestens seit der wegweisenden „Marmeladenstudie“ von Sheena Iyengar und Mark Lepper aus dem Jahr 2000 wissen wir, dass Konsumenten eine große Auswahl zwar attraktiv finden (24 Marmeladen), aber spätestens dann, wenn es darum geht, sich zu entscheiden, fällt es ihnen schwer, sich auf ein Produkt festzulegen. Oft gehen sie sogar ohne ein Produkt in der Tasche nach Hause. Tatsächlich kaufen mehr Menschen, wenn die Auswahl kleiner ist (6 Marmeladen).

Wie kommt es zu dieser „Qual der Wahl“ und was sind die neurobiologischen Ursachen? Es wird vermutet, dass mit einem größer werdenden Angebot an Optionen, die Vorteile der größeren Auswahl immer geringer werden, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass eine noch bessere Option dabei ist, wird immer geringer. Umgekehrt nehmen die Kosten, eine Entscheidung zu treffen, immer stärker zu: man braucht mehr Zeit, kann sich nicht alle Optionen merken, der Vergleich wird schwieriger. Irgendwann übersteigen die kognitiven Kosten die Vorteile einer großen Auswahl (der Aufwand übersteigt den Nutzen) und wir empfinden „Qual der Wahl“: wir sind demotiviert, unzufrieden mit der Entscheidung, oder treffen überhaupt keine Entscheidung mehr.

Elena Reutskaja (IESE Business School in Barcelona) und Axel Lindner (Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Universität Tübingen) haben – gemeinsam mit Kooperationspartnern am California Institute of Technology (Colin Camerer und Richard Andersen) und an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona (Rosemarie Nagel) – untersucht, was bei der „Qual der Wahl“ im Gehirn vor sich geht. Ihre Versuchspersonen arbeiteten dabei nicht nur für eine monetäre Belohnung sondern sie erhielten zusätzlich ein Fotoprodukt ihrer Wahl (z.B. ein T-Shirt, oder einen Becher). Ihre Aufgabe im Experiment bestand darin, aus einer unterschiedlich großen Auswahl an Bildern das Bild zu wählen, welches auf dem Fotoprodukt verewigt werden sollte. Während die Probanden ihre Entscheidungen trafen, wurde ihre Gehirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gemessen.

Es stellte sich heraus, dass die Probanden eine kleine Auswahl an Bildern (6 Fotos) als zu gering ansahen, die Wahl aus 24 Fotos war ihnen dagegen zu schwer. Die optimale Auswahlgröße betrug bei den meisten Versuchspersonen 12 Bilder.

Die Gehirnaktivität in den Basalganglien und dem anterioren cingulären Cortex – das sind Gehirnareale, die an Entscheidungsprozessen beteiligt sind und die mit ihrer Aktivität unsere Motorik und unsere Denkprozesse „motivieren“ – spiegelte die präferierte mittlere Auswahlgröße wider: Die Gehirnaktivität in diesen Arealen war immer dann am höchsten, wenn 12 Bilder zur Wahl standen. War die Auswahl zu gering oder zu groß, war die Aktivität dagegen niedriger. Wurde dem Angebot ein sehr attraktives Bild hinzugefügt, um der Versuchsperson die Auswahl zu erleichtern, so stieg die Aktivität zwar insgesamt, sie war jedoch immer noch für eine mittlere Auswahlgröße am höchsten.

Reutskaja und Lindner mutmaßen, dass die Aktivität in den Basalganglien und dem anterioren cingulären Cortex die Differenz zwischen dem kleiner werdenden Nutzen eines größer werdenden Auswahlangebots und den steigenden Bearbeitungskosten widerspiegelt. Wird die Auswahl zu groß, übersteigen die Kosten den Nutzen, die Aktivität sinkt, und es entsteht „Qual der Wahl“. Werden die Kosten jedoch reduziert, beispielsweise indem der Computer die Versuchsperson bei der Entscheidung unterstützt, spiegeln die zuvor genannten Gehirnareale dagegen unsere Präferenz für eine große Auswahl wider, die Aktivität war in diesem Fall immer dann am größten, wenn 24 Fotos zur Wahl standen.

Die Untersuchungen von Reutskaja und Lindner geben einen Einblick, wie „Qual der Wahl“ im Gehirn entsteht und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Auf Grundlage ihrer Untersuchungen wird es möglich, die Prozesse, die zur „Qual der Wahl“ führen, besser zu verstehen. Das subjektive Empfinden von „Qual der Wahl“ kann objektiv fassbar gemacht werden. Die verminderte Motivation und der reduzierte motorische Antrieb, wie sie bei der „Qual der Wahl“ in Gesunden auftreten können, werden übrigens auch bei bestimmten neuropsychiatrischen Krankheiten beobachtet. Wissen darüber, wie das Verhältnis von Aufwand und Nutzen vom Gehirn berechnet wird, könnte folglich nicht nur für das bessere Verständnis von Entscheidungsprozessen, z.B. beim nächsten Einkauf, relevant sein, sondern auch helfen, einzelne Symptome solcher Erkrankungen besser zu erklären.

Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) wurde 2001 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, dem Land Baden-Württemberg, der Eberhard Karls Universität und ihrer medizinischen Fakultät sowie dem Universitätsklinikum Tübingen gegründet. Das HIH beschäftigt sich mit einem der faszinierendsten Forschungsfelder der Gegenwart: der Entschlüsselung des menschlichen Gehirns. Im Zentrum steht die Frage, wie bestimmte Erkrankungen die Arbeitsweise dieses Organs beeinträchtigen. Dabei schlägt das HIH die Brücke von der Grundlagenforschung zur klinischen Anwendung. Ziel ist, neue und wirksamere Strategien der Diagnose, Therapie und Prävention zu ermöglichen. Derzeit sind 21 Professoren und rund 380 Mitarbeiter am Institut beschäftigt.

Das 1805 gegründete Universitätsklinikum Tübingen (UKT) gehört zu den führenden Zentren der deutschen Hochschulmedizin und trägt als eines der 33 Universitätsklinika in Deutschland zum erfolgreichen Verbund von Hochleistungsmedizin, Forschung und Lehre bei. 2001 gründete es zusammen mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Eberhard Karls Universität das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), mit dem Ziel, die Ergebnisse der exzellenten neurowissenschaftlichen Forschung rasch in die klinische Praxis zur Behandlung neurologischer und neurodegenerativer Erkrankungen zu überführen. Website: www.medizin.uni-tuebingen.de

Originalpublikation:
Nature Human Behaviour
“Choice overload reduces neural signatures of choice set value in dorsal striatum and anterior cingulate cortex”
Elena Reutskaja, Axel Lindner, Rosemarie Nagel, Richard A. Andersen and Colin F. Camerer
DOI: 10.1038/s41562-018-0440-2 (http://dx.doi.org/)