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Sinneswahrnehmung ist keine Einbahnstraße

Wie unsere Erfahrungen neue Eindrücke beeinflussen: Tübinger Neurowissenschaftler entschlüsseln Signalpfad, über den das Gehirn seine eigene Wahrnehmung der Umwelt verändert

Wenn wir mit der Welt interagieren, zum Beispiel indem wir mit der Hand ein Objekt berühren, verändert das Gehirn das Sinnessignal auf Basis einer Vorab-Erwartungshaltung. Tübinger Neurowissenschaftler haben dieses sogenannte „sensorische Gating“ näher erforscht. Bei Ratten, deren Tasthaare Objekte ertasteten, fanden sie Gating-Signale aus höheren Hirnregionen, die die Signalstärke aus der aktiven Berührungswahrnehmung verringerten. Offenbar überformt unsere Erwartungshaltung, die in höheren Hirnregionen erzeugt wird, aktuelle Sinneseindrücke. Solche Erwartungssignale könnten für das Verständnis sensorischer Halluzinationen, etwa bei Schizophrenie, eine wichtige Rolle spielen. Die Studie wurde mit Geldern der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verwirklicht und im Fachmagazin Nature Communications publiziert.

„Mama, warum kann ich mich selbst nicht kitzeln?“, fragen Kinder. Eltern haben hier keine Antwort, denn das bekommt auch der kitzligste Mensch tatsächlich nicht hin. Der Grund dafür ist im Prinzip bekannt: Berührungsrezeptoren in der Haut nehmen die Berührung zwar wie jede andere wahr, aber auf dem Weg in die höheren Hirnregionen, wo die Berührung wahrgenommen wird, wird das Gefühl verändert. Das liegt daran, dass unser Gehirn die Berührung unserer eigenen Finger auf unserer Haut vorwegnimmt und das Signal reduziert. Dieses Phänomen nennt man „sensorisches Gating“ (in etwa: „Sinnes-Türsteher“).

Sensorisches Gating hat in den Neurowissenschaften und der Psychologie viel Aufmerksamkeit erfahren. Es gibt Hinweise darauf, dass es bei Schizophrenie-Störungen beeinträchtigt ist und dass daraus Halluzinationen entstehen, beispielsweise wenn die eigene Stimme als die eines Fremden wahrgenommen wird. Das Phänomen beruht auf der letztlich philosophischen Frage, wie unsere Weltwahrnehmung beschaffen ist: Eine getreue Wiedergabe auf Basis von Außenreizen? Oder beruht sie auf einer Art Vorwissen und nur Abweichungen von der Schablone erregen unsere Aufmerksamkeit? Für beide Seiten fand die Psychologie unterstützende Argumente.

„Diese Fragen sind schwer zu beantworten, weil die Voraussagen, von denen das Gehirn ausgeht, schwer festzumachen sind“, sagt Cornelius Schwarz, der am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) die Arbeitsgruppe „Systemische Neurophysiologie“ leitet. „Wir wissen, dass Signale aus der aktiven Wahrnehmung unterwegs ‚gegatet’ werden. Aber woher das Gating kommt, wo es die Signale aus den Sinnesorganen abfängt, und auf welchen neuronalen Pfaden dies passiert, versuchen wir seit Jahren zu beantworten.“

Schwarz untersuchte dafür zusammen mit Shubhodeep Chakrabarti in einem DFG-geförderten Projekt das Tasthaarsystem von Ratten. Mit ihren Tasthaaren ertasten diese aktiv ihre Umgebung, erkennen Hindernisse und navigieren sogar in völliger Dunkelheit. Chakrabarti und Schwarz ließen Ratten mit einem einzelnen Tasthaar Objekte ertasten. Bei manchen Durchläufen wurde das Objekt gegen das Tasthaar bewegt (passive Wahrnehmung), bei anderen war es für die Ratten nur zu entdecken, wenn sie selbst danach tasteten (aktive Wahrnehmung). Mit Hilfe haarfeiner implantierter Elektroden maßen die Forscher die Aktivität einzelner Zellen im Hirnstamm der Ratten. Ertasteten die Ratten das Objekt aktiv, war das gemessene Signal nun deutlich schwächer als bei passiver Berührung: Offensichtlich war im Hirnstamm sensorisches Gating am Werk.

„Es ist faszinierend, dass das Gating bereits im Hirnstamm passiert, nicht später auf dem neuronalen Pfad ins Gehirn”, sagt Chakrabarti. „Wir hatten nicht unbedingt erwartet, dass das Signal so früh abgefangen und verändert wird.“ Die Wissenschaftler konnten auch zeigen, dass das Gating seinen Ursprung im sogenannten somatosensorischen Kortex hat. Diese höhere Hirnregion sitzt im Gehirn quasi obenauf, ist in Ratten wie in Menschen vorhanden und verantwortlich für die Wahrnehmung von Druck, Temperatur und einigen Aspekten von Schmerz. In Ratten, deren somatosensorischer Kortex beschädigt war, war kein sensorisches Gating messbar.

Was das heißt, erklärt Chakrabarti folgendermaßen: „Der Teil der Hirns, mit dem wir fühlen, der somatosensorische Kortex, verändert seinen eigenen Input. Er sendet bereits vorab ein Gating-Signal in den Hirnstamm, das die erwartete Berührung vorhersagt. Wenn dann das eigentliche Signal aus dem Tasthaar kommt und dem Kortex mitteilen will ‚aufgepasst, da ist ein Objekt!’, dann muss dieses Signal durch den Hirnstamm. Hier hat das Gating-Signal aus dem Kortex dann bereits einen Türsteher aufgestellt, der dem Sinnessignal einen Stempel verpasst: ‚keine Panik, dieses Signal wurde bereits erwartet’. Sinneswahrnehmung ist also keine Einbahnstraße.“

Chakrabarti and Schwarz wollen nun als Nächstes klären, was Aufmerksamkeit und Motivation mit Sinnessignalen machen: Schickt der somatosensorische Kortex auch dann ein Gating-Signal, wenn es um eine Belohnung geht? Könnte Gating auf besonders relevante Signale, die gleichsam mit Spannung erwartet werden, eventuell sogar verstärkend wirken statt abschwächend? Wenn ja, dann würde das bedeuten, dass kognitive Funktionen wie Verlangen und Aufmerksamkeit einen fundamentalen Einfluss auf unsere Weltwahrnehmung hätten.

Publikation
Shubhodeep Chakrabarti, Cornelius Schwarz: Cortical Modulation of Sensory Flow During Active Touch in the Rat Whisker System. Nature Communications 9: 3907.
doi: 10.1038/s41467-018-06200-6

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