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Stear by Ear: Ohren steuern Handprothese

Erstmals zeigen Wissenschaftler aus Göttingen, Heidelberg und Karlsruhe: Neuartige Mensch-Maschine-Schnittstelle funktioniert und verbessert im Praxistest die Funktionalität von Handprothesen. Veröffentlicht im Journal of Neural Engineering.

(umg) Fast jeder Mensch kann die Ohrmuskulatur willentlich aktivieren, wenn er diese Fähigkeit gezielt trainiert. Das haben Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) herausgefunden. Sie wollen die elektrischen Signale, die beim Aktivieren der Muskeln rund um das Ohr entstehen, für neue Aufgaben nutzen. Hierzu entwickelten Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen (Prof. Dr. David Liebetanz, Klinik für Klinische Neurophysiologie), der Universitätsklinik Heidelberg (Priv.-Doz. Dr.-Ing. Rüdiger Rupp) und des Karlsruher Institut für Technologie (Priv.-Doz. Dr.-Ing. Markus Reischl) einen Prototypen einer innovativen Mensch-Maschine-Schnittstelle. Dieses System verbindet die Ohrmuskeln mit einer Computersteuerung über einen kleinen Chip. Er zeichnet Muskelsignale auf und überträgt sie per Funk an einen Computer. Die Forscher zeigten bereits in einer früheren Studie, dass mit dieser Technik elektrische Rollstühle präzise gesteuert werden können. Die aktuelle Studie zeigt, dass dieses System auch die Steuerung von Handprothesen verbessern kann. Die Studie wurde im Wissenschaftsjournal Journal of Neural Engineering veröffentlicht.

Originalveröffentlichung:
A hybrid auricular control system: direct, simultaneous, and proportional myoelectric control of two degrees of freedom in prosthetic hands. Leonie Schmalfuss, Janne Hahne, Dario Farina, Manuel Hewitt, Andreas Kogut, Wolfgang Doneit , Markus Reischl, Rüdiger Rupp and David Liebetanz. (2018). J. Neural Eng. 15 056028. https://doi.org/10.1088/1741-2552/aad727

Die Probanden waren erheblich schneller (a) und machten weniger Fehler (b), wenn sie die Ohrsteuerung (Auricular contol system, ACS) benutzten, als wenn sie die beiden konventionellen Steuerungen (Co-contraction, CC; Slope Control, SL) verwendeten. Aufgabe war es, mit der Prothesenhand Wäscheklammern von einer horizontalen Stange auf eine senkrechte Stange umzusetzen (clothespin relocation test).

HINTERGRUND UND ERGEBNISSE

Derzeit stehen für die Versorgung von Personen mit Unterarm- oder Handamputationen exzellente, motorisierte Handprothesen zur Verfügung, bei der die Hand geöffnet und zum Greifen geschlossen werden kann. Zudem kann die Prothesenhand am Unterarm gedreht werden. Ein Problem besteht jedoch in der Ansteuerung dieser unterschiedlichen Handfunktionen, da diese mit dem derzeitigen Stand der Technik nur nacheinander angesteuert werden können. Die Hand kann also nicht gleichzeitig gedreht und geöffnet werden, wie es normalerweise der Fall ist. Dieses Steuerungsproblem konnte jetzt mit Hilfe einer innovativen Ohrsteuerung überwunden werden.

In ihrer Studie zeigen die Wissenschaftler um den Göttinger Neurologen Prof. David Liebetanz, dass mit der Ohrsteuerung eine gleichzeitige Ansteuerung der Handdrehung und -Öffnung bzw. -Schließung möglich ist. Hierzu verwendeten sie einen hybriden Ansatz: Das Öffnen und Schließen der Hand wurde wie bei konventionellen Steuerungen über die Unterarmmuskulatur gelenkt. Die Hand konnte jedoch zusätzlich direkt mit der Ohrmuskulatur gedreht werden. In ihrer Studie übertraf die Ohrsteuerung die beiden anderen gebräuchlichsten Steuerungstechniken, die nur die Unterarmmuskulatur benutzen. Mit der zusätzlichen Ohrsteuerung kontrollierten die Probanden die Handprothese wesentlich schneller, sie machten auch bedeutend weniger Fehler. Zudem zeigte sich eine hohe Robustheit des Systems, da es, anders als die konventionellen Steuerungen, nicht durch unterschiedliche Armstellungen beeinträchtigt wurde.

Für die an dem Projekt maßgeblich beteiligten Wissenschaftler Dr. rer. nat. Leonie Schmalfuß, Klinik für Klinische Neurophysiologie der UMG, und Dr. rer. nat. Janne Hahne, Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie der UMG, bietet die zusätzliche Ohrsteuerung eine neue Möglichkeit für die simultane Steuerung von zwei Freiheitsgraden. Das System könnte eine sinnvolle Ergänzung für Unterarmamputierte darstellen, um die Funktionalität ihrer Handprothese zu verbessern.

Die mit dem Prototyp erzielten Ergebnisse sollen nun die Grundlage für die Entwicklung eines voll implantierbaren Systems bilden. Ein solches System könnte sich dann per Funk mit unterschiedlichen Geräten verbinden. Diese können ein Rollstuhl, ein Computer oder eben auch eine Armprothese sein.

Das Forschungsprojekt wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für vier Jahre mit insgesamt 890.000 Euro gefördert.

INFORMATIONEN UNTER:
www.neurologie.uni-goettingen.de/neuroprothetik-129.html