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Die perfekte Welle: Wann ist das Gehirn besonders empfänglich?
Tübinger Neurowissenschaftler erforschen die Schwankungen der Hirnerregbarkeit ‒ Gezielte Stimulation ermöglicht neue Therapien für gelähmte Patienten
Unser Gehirn ist unterschiedlich empfänglich für neue Reize und Informationen: Manchmal wird ein Signal schnell und effektiv verarbeitet und weitergeleitet. Wenig später kann der gleiche Impuls schon deutlich weniger wirksam sein. Über die verantwortlichen Mechanismen ist bislang wenig bekannt. Der Neurochirurg Professor Alireza Gharabaghi und sein Team haben die zugrundeliegenden Hirnzustände in einer Studie an der Universität Tübingen aufgeschlüsselt. Ein besseres Verständnis solcher Prozesse kann helfen, neue Therapien für gelähmte Patienten, beispielsweise nach einem Schlaganfall, zu entwickeln. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin Brain Stimulation veröffentlicht.
Selbst wenn wir uns in Ruhe befinden, unterliegt unsere Hirnaktivität einem ständigen Auf und Ab, vergleichbar dem Wellengang eines aufgewühlten Meeres. Seit etwa 100 Jahren kann man diese elektrischen Aktivitäten des Gehirns, auch als Oszillationen bezeichnet, messen: Im Elektroenzephalogramm (EEG) werden die dadurch ausgelösten Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche aufgezeichnet. Die Stärke der EEG-Oszillationen – also die Höhe des Wellenganges – beeinflusst die Weiterleitung von Signalen. Hier konnten die Tübinger Forscher bereits in der Vergangenheit zeigen, dass Impulse besonders schnell vom Gehirn über das Rückenmark an die Muskeln weitergeleitet werden, wenn etwa Hirn-Oszillationen mit bis zu etwa 17 Hertz relativ schwach ausgeprägt sind.
Für die aktuellen Forschungsergebnisse nutzte das Team um den Arzt und Wissenschaftler Alireza Gharabaghi die transkranielle Magnetstimulation (TMS), um die Aktivitätszustände der Nervenzellen zu erforschen, wenn sie besonders gut miteinander kommunizieren. Die schmerzfreie Diagnose- und Behandlungsmethode TMS erzeugt ohne Berührung ein Magnetfeld über dem Kopf und dadurch neuronale Signale im Gehirn, die von Nervenzelle zu Nervenzellen weitergeleitet werden bis sie in einem Muskel eine Bewegung auslösen.
Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass neben der Stärke der EEG-Oszillationen besonders wichtig ist, in welcher Phase einer Welle der Impuls eintrifft: „Bei ‚ruhiger See‘, also bei schwachen Oszillationen, werden die Signale bereits um 40 bis 70 Prozent besser weitergeleitet als bei ‚hohem Wellengang‘ “, erklärt der Neurochirurg. Treffe der Impuls jedoch genau im aufsteigenden Schenkel einer Welle ein, steigere sich die Effektivität sogar um ca. 180 Prozent. Dadurch wird der gleiche Impuls um ein mehrfaches wirksamer weitergeleitet und steigert den Wirkungsgrad der Hirnstimulation.
„Es kommt aber auf Millisekunden an, diese perfekte Welle zu erwischen“, so Gharabaghi weiter. Deshalb beeinflussten die Forscher in einem zweiten Projekt die Hirn-Oszillationen von Schlaganfall-Patienten so, dass der Wellengang vorhersehbarer wurde. Dazu brachten sie von außen über der Kopfhaut sehr schwachen und ungefährlichen Wechselstrom über den Hirnarealen an, die für Bewegung zuständig sind. So konnten sie im Gehirn die Schwankung der Hirnaktivität insgesamt bedeutend reduzieren.
Patienten könnten damit Therapieansätze, bei denen es genau auf diese Hirnaktivität ankommt, in Zukunft besser nutzen. „Die Kombination dieser beiden Ansätze könnte uns helfen, individuelle Therapien für Patienten zu erforschen, die nach einem Schlaganfall beispielsweise ihre Hand nicht mehr bewegen können.“ Eine klinische Anwendung soll nun in Studien untersucht werden.
Publikationen:
Khademi F, Royter V, Gharabaghi A. State-dependent brain stimulation: Power or phase? Brain Stimul. 2018. pii: S1935-861X(18)30363-2. doi:10.1016/j.brs.2018.10.015.
Naros G, Gharabaghi A. Physiological and behavioral effects of β-tACS on brain self-regulation in chronic stroke. Brain Stimul. 2017;10 (2):251-259. doi: 10.1016/j.brs.2016.11.003.