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NAM bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte: Vorteile mangels geeigneter Studien unklar
Bisherige Analysen nicht belastbar / Nur Gesichtsästhetik in Kurzzeit-Perspektive untersucht / Stellungnahmen zu HTA-Entwurf im Rahmen von ThemenCheck Medizin erbeten
Weltweit kommt eines von 500 Neugeborenen mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt. Sie ist damit eine der häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Die Behandlung ist komplex und langwierig, in der Regel sind mehrere Operationen im Säuglings- und Kindesalter nötig. Eine Arbeitsgruppe der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hat nun im Auftrag des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht, ob die Behandlungsergebnisse besser oder schlechter ausfallen, wenn vor der ersten Operation die Nasoalveolar-Molding-Methode (NAM) angewendet wird: Dabei soll eine individuell angefertigte Kieferplatte mit Nasenelement (Nasensteg) den Spalt mittels Druck- und Zugkräften verkleinern, um die Ausgangslage für die OP zu verbessern.
Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der MHH feststellen, gibt es jedoch bisher keine klinischen Studien, die belastbare Aussagen zu Nutzen und Schaden der NAM zulassen. Denn in den wenigen verfügbaren Studien werden wichtige Einflüsse auf das Behandlungsergebnis, wie Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen nach Alter bei erster OP und nach Schwere der Deformation, nicht ausreichend berücksichtigt. Stellungnahmen zum Entwurf dieses HTA-Berichts im Rahmen von ThemenCheck Medizin sind bis zum 25. März möglich.
Normale Entwicklung ermöglichen
Ziel der Behandlung ist es, die Fehlbildung zu korrigieren und wichtige, von ihr abhängige Funktionen wie z. B. Ernährung, Atmung, Sprechen und Gehör zu normalisieren sowie eine Symmetrie des Gesichts zu erreichen. Damit wollen die Ärztinnen und Ärzte die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen körperlich und sozial möglichst normal entwickeln können.
Behandlung ist komplex und langwierig
Ein allgemein anerkanntes Behandlungskonzept, wie es sich üblicherweise u. a. in medizinischen Leitlinien niederschlägt, gibt es aktuell nicht. Häufig verschließen die Ärztinnen und Ärzte die Lippe im Alter von etwa drei bis sechs Monaten operativ. Vor dem Eingriff versuchen sie gegebenenfalls mittels NAM die Schwere der Deformation zu reduzieren. Um die Sprachentwicklung nicht zu behindern, wird der Gaumen in der Regel erst im Alter von 9 bis 18 Monaten verschlossen, mit 6 bis 11 Jahren folgt eine Korrekturoperation. Hat die NAM-Methode Erfolg, lassen sich gegebenenfalls weitere chirurgische Eingriffe vermeiden.
Störgrößen nicht ausreichend berücksichtigt
Studien mit hoher Aussagesicherheit, also randomisierte kontrollierte Vergleiche zwischen einer Behandlung mit NAM und ohneNAM, gibt es bisher nicht. Was die Arbeitsgruppe der MHH fand, sind vier Studien mit jeweils einer Kontrollgruppe. In diesen wurde aber nicht berücksichtigt, dass sich die Kinder mit NAM– und jene ohne NAM-Behandlung unterschieden – etwa in Hinblick auf das Alter bei der ersten Operation (bzw. zu Beginn der Intervention) oder bzgl. der Ausprägung der Spaltbildung. Das könnte die Behandlungsergebnisse beeinflusst haben. Fachleute sprechen hier von „Confoundern“ (engl. Störgrößen), die nicht kontrolliert wurden.
Aussagen zum Nutzen oder Schaden der NAM lassen sich aus diesen Studien jedenfalls nicht ableiten.
Aspekte wie Schmerzen, Sprechen oder Atmung fehlen
Ohnehin berücksichtigten diese Studien ausschließlich Parameter zur Gesichtsästhetik, darunter die Symmetrie des Gesichts. Wichtige andere Aspekte wurden nicht erhoben. Für Schmerz gilt das ebenso wie für Sprechen, Atmung, Gehör oder die soziale und emotionale Entwicklung. Untersuchungen, welche die Patientinnen und Patienten über einen längeren Zeitraum vergleichen, gibt es ebenfalls nicht.
Noch keine regelhafte Kassenleistung
In Deutschland gibt es bisher nur wenige spezialisierte Kliniken, in denen die Ärztinnen und Ärzte die NAM regelmäßig anwenden. Die Mehrkosten in Höhe von 900 Euro bis 1400 Euro übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen dabei nicht regelhaft.
Die betroffenen Kinder und ihre Eltern müssen zur Kontrolle und Anpassung der NAM-Apparatur 12 bis 16 zusätzliche Termine wahrnehmen. Diese finden in der Regel in spezialisierten Zentren statt, die üblicherweise in Ballungszentren liegen. Je nach Wohnort kann das längere Anreisen mit sich bringen.
Weitere Forschung nötig
Einige Expertinnen und Experten sind der Auffassung, der Nutzen der NAM sei bereits erwiesen. Allerdings berufen sie sich auf Studien, deren Ergebnisse nicht hinreichend aussagekräftig sind. Die Arbeitsgruppe der MHH konstatiert in ihrem Berichtsentwurf erheblichen Forschungsbedarf und fordert Studien mit hoher Aussagesicherheit.
„Es ist bedenklich, dass eine Intervention, die die Situation von Kindern mit einer häufigen angeborenen Fehlbildung verbessern soll, nicht ausreichend in Studien geprüft wurde“, kommentiert IQWiG-Projektleiterin Sarah Thys den Befund der MHH-Autorengruppe.
Thema von Bürgern und Patienten vorgeschlagen und mit ausgewählt
Zu den Besonderheiten von ThemenCheck Medizin gehört, dass die Fragestellungen der Berichte immer auf Vorschläge aus der Bevölkerung zurückgehen. Das IQWiG sammelt diese und ermittelt in einem zweistufigen Auswahlverfahren pro Jahr bis zu fünf Themen, zu denen HTA-Berichte erstellt werden. Dabei wird die Bürger- und Patientensicht mit einbezogen. Diese HTA-Berichte werden nicht vom IQWiG verfasst. Das Institut beauftragt externe Sachverständige mit der Berichterstellung, fungiert als Herausgeber und prüft, ob die Ergebnisse gemäß seinen wissenschaftlichen Methoden erarbeitet wurden.
IQWiG bittet um Stellungnahmen und Themen-Vorschläge
Interessierte Personen und Institutionen können nun bis zum 25. März 2019 schriftliche Stellungnahmen zum vorläufigen Basisbericht „NAM bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“ beim IQWiG einreichen. Diese werden gesichtet und gegebenenfalls in einer mündlichen Anhörung mit den Stellungnehmenden diskutiert. Danach wird der Basisbericht finalisiert. Außerdem schreiben die Autorinnen und Autoren eine allgemein verständliche Version, und das IQWiG ergänzt das Paket um einen Herausgeberkommentar. Alle Dokumente werden auf der Website ThemenCheck-medizin.iqwig.de veröffentlicht sowie an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) übermittelt.
Unabhängig von diesem dritten HTA-Bericht ist es jederzeit möglich, Vorschläge für neue Themen einzureichen. Sie werden in der nächsten Auswahlrunde begutachtet, die im August 2019 beginnt.
Weitere Informationen des IQWiG: