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Leben mit Magersucht: „Es ist besser, wenn sie schläft“
Wie ein Leben mit Magersucht aussieht, davon haben Außenstehende kaum eine Vorstellung. Wie ist das, wenn man sich so dick fühlt, als passe man kaum in normale Kleidung hinein? Obwohl der Kopf weiß, dass man in Wahrheit viel zu dünn ist? Die Körperschemastörung ist ein häufiges Symptom der Erkrankung Anorexie. Laura Mantler lebt seit vier Jahren mit dieser Diagnose – heute „schläft“ die Essstörung bei ihr. Geholfen hat ihr die Behandlung in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKM.
Laura Mantler macht gerade Abitur. Das ist ohne Frage erwähnenswert, aber vor dem Hintergrund, dass die Achtzehnjährige seit ihrer frühen Jugend mit ihrer Magersucht (Anorexia Nervosa) kämpft, scheint diese Leistung umso größer. Alleine in den letzten vier Jahren musste Laura zwei Mal stationär in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKM (Universitätsklinikum Münster) aufgenommen werden und hat viele Monate auf der Station für PatientInnen mit Essstörungen verbracht.
Oft ist es eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers, die Patientinnen mit Anorexie dazu verleitet, das eigene Gewicht zum Mittelpunkt ihrer Welt zu machen. Dabei kann das Körperschema der Betroffenen völlig verschoben sein, sagt die Therapeutin und Leiterin der Forschungsgruppe Essstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. Ida Wessing. „PatientInnen mit einer Körperschemastörung leiden unter überdimensionierten Vorstellungen ihrer Ausmaße – und das trotz ihres extremen Untergewichts.“ Auch bei Laura habe eine schwere Körperschemastörung vorgelegen, ein Beispiel für diese falsche Wahrnehmung liefert sie selbst: „Ich hatte zum Beispiel das Gefühl, meine Schlafanzughose drückt, und ich musste sie nachts ausziehen, weil sie sich wirklich viel zu eng anfühlte und überall spannte. Ich hatte in dieser Zeit aber definitiv mein niedrigstes Gewicht.“
Um der Wahrnehmungsverzerrung zu begegnen, versuchen Therapeuten, den PatientInnen zunächst ein realistisches Bild ihres Körpers zu vermitteln. Dafür werden die PatientInnen gemessen und gewogen und man vergleicht gemeinsam den eigenen BMI (body mass index) mit dem von normalgewichtigen Gleichaltrigen. „Das kann man grafisch gut darstellen. So verdeutlichen wir den Betroffenen erst einmal, wie weit sie wirklich unter allen anderen vom Gewicht her liegen. Und dann erklären wir, was das alles für gesundheitliche Folgen hat und wie sehr, sehr gefährlich das für den Körper ist“, so Wessing.
Die Therapie der Anorexie ist ein Prozess mit multimodalen Therapie-Konzepten, der meist mehrere Monate, wenn nicht Jahre braucht. Die Körperbildstörung ist dabei ein Behandlungs- und Forschungsschwerpunkt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKM. Laura war erst beim zweiten Klinikaufenthalt so weit, sich eingestehen zu können, dass ihr Problem tiefer lag. Wie viele Jugendliche bringt auch sie eine bestimmte Per-sönlichkeitsstruktur mit, die die Anorexie begünstigt, so Wessing: „Die PatientInnen sind häufig perfektionistisch und haben ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle. Oft sind das hochangepasste junge Menschen, die hohe Ansprüche an sich stellen und optimale Leistungen bringen wollen.“ Dazu passt, dass Laura schon im Alter von sechs Jahren damit begonnen habe, sich Essenspläne aufzuerlegen und Kalorien zu zählen. In einem abgegrenzten Bereich die Kontrolle über ihr Leben zu haben, tat ihr gut, erzählt Laura. „Ich funktionierte in allen Bereichen besser, wenn ich die Kontrolle behielt“, sagt sie. Genau das ist etwas, mit dem sie heute, nach der Therapie, immer noch zu kämpfen hat. Die Magersucht kehre in Form eines Gefühls der Fremdbestimmtheit immer wieder zurück: „Man ist nie alleine! Da ist immer jemand, der deine Handlungen bestimmt. Es gibt viele kleine Situationen im Alltag, wo man erkennt: Okay, das ist jetzt gerade eine Essstörungs-Handlung und nicht Du selbst.“ Die Essstörung beschreibt sie als „kleine Stimme“, auf die sie höre: „Ich spüre, sie ist da, und ich bin dann ganz anders.“
Inzwischen hält Laura seit längerer Zeit ihr Gewicht und neben dem Abitur sind auch wieder andere Dinge in ihrem Leben wichtig. Zum Beispiel pflege sie nun wieder stärker soziale Kontakte. Außerdem will Laura sich ihren größten Traum erfüllen: Sie plant einen Afrika-Aufenthalt, bei dem sie mit ihrem Freund zusammen einige Monate einen Freiwilligendienst leisten will.
Therapeutin Ida Wessing findet das wichtig: „Dass die Krankheit ganz ver-schwindet, ist ein Stück weit unwahrscheinlich. Aber wenn die PatientInnen plötzlich aufhören, ständig über Essen zu reden und sich wieder anderen Dingen zuwenden, wenn ich merke, da ist Leben und Freude drin, dann sind das ganz wichtige Anzeichen, dass es in die richtige Richtung geht.“
Dass die Essstörung irgendwann kein Thema mehr sein soll, wäre Lauras Wunsch auf einem langen Weg. Im Moment begnügt sie sich mit der Vorstellung, dass die Magersucht „schläft“: „Es ist besser, wenn sie schläft! Und es ist auch möglich, sie schlafen zu lassen.“