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Status epilepticus zügig behandeln und dabei nicht unterdosieren!
Ein epileptischer Anfall sistiert normalerweise von alleine nach spätestens fünf Minuten. Ist dies nicht der Fall, kann eine lebensbedrohliche Situation entstehen; bleibende Schäden sind möglich. Ein anhaltender epileptischer Anfall wird als Status epilepticus bezeichnet und muss schnellstmöglich medikamentös behandelt werden.
Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie geben dazu klare Empfehlungen, deren Umsetzung in der Praxis jedoch nicht immer in entsprechender Weise stattfindet – dies zeigt eine jüngst publizierte Studie aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Epilepsien sind relativ häufige chronisch-neurologische Erkrankungen mit einer Prävalenz von 5-9/1.000 [1] und zwei Häufigkeitsgipfeln: in den ersten Lebensjahren sowie nach dem 50.-60. Lebensjahr. Die Ursachen von Epilepsien, also wiederholten epileptischen Anfällen, sind vielfältig, sie reichen von genetischer Veranlagung (mit z. T. bekannten Genmutationen) bis hin zu vielen anderen definierten Auslösern (z. B. verschiedene, auch angeborene Stoffwechseldefekte, Hirnfehlbildungen, Hirntumoren oder Folgezustände nach unterschiedlichsten Hirnschädigungen).
Ein einzelner epileptischer Anfall ist nicht mit einer Epilepsie gleichzusetzen, auch akute zerebrale Erkrankungen wie Schlaganfall, Entzündungen, Schädelhirntrauma sowie systemische Auslöser wie Hypoglykämie oder Entzugssituationen können zu einem Anfall führen. Ein epileptischer Anfall entsteht durch die plötzliche, exzessive und synchrone elektrische Entladung von Zellen der Hirnrinde. Generalisierte (d. h. die gesamte Hirnrinde betreffende) Anfälle können mit oder ohne Muskelzuckungen (Konvulsionen) einhergehen. Ein epileptischer Anfall ist normalerweise selbstlimitierend, d. h. die neuronale Aktivität erschöpft sich meist nach ca. zwei Minuten.
Vom Status epilepticus (SE) [2] spricht man, wenn der Anfall nicht innerhalb von fünf Minuten von alleine aufhört. Es handelt sich um einen potenziell lebensbedrohlichen Notfall mit relativ hoher Letalität und Morbidität – je länger ein SE anhält, desto gefährlicher wird es; zum einem aufgrund der massiven körperlichen Belastung; zum anderen weil die anhaltenden elektrischen Entladungen eine normale Gehirnaktivität verhindern und es zum Versagen der Steuerung von Atmung, Blutdruck und Temperatur kommen kann. Es besteht im SE auch die Gefahr einer bleibenden Schädigung von Gehirnzellen. Je länger ein epileptischer Anfall anhält, desto unwahrscheinlicher wird außerdem eine spontane Beendigung. Daher nennen die Leitlinien [2] die Unterbrechung des SE als „vorrangiges Therapieziel”. Empfohlen werden Benzodiazepine (Lorazepam, Midazolam oder Diazepam), am besten i. v. oder rektal. Bei Patienten mit bekannter Epilepsie sind oftmals Angehörige oder betreuende Personen in eine Notfallbehandlung eingewiesen.
Eine Studie untersuchte, wie die notfallmäßige Durchbrechung eines Status epilepticus (SE) bei Erwachsenen in der Praxis abläuft, bzw. von welchen Faktoren die Terminierung eines SE abhängt. Dazu wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz im „SENSE“-Register („Sustained Effort Network for treatment of Status Epilepticus“) über viereinhalb Jahre Daten gesammelt. Es erfolgte eine Gruppierung in generalisiert-konvulsive SE (GCSE) und nicht-GCSE. Primärer Endpunkt war die Zeitdauer bis zur erfolgreichen Unterbrechung des SE (eine Stunde bei GCSE und 12 Stunden bei nicht-GCSE). Insgesamt 1.049 Patienten wurden ausgewertet. Sie waren (median) ca. 70 Jahre alt, 43% hatten einen GCSE. Die mediane Zeit vom Beginn des SE bis zur Notfallbehandlung betrug 30 Minuten bei einem GCSE und 150 Minuten bei Nicht-GCSE. Dass der nichtkonvulsive Status epilepticus erst so spät behandelt wird, liegt daran, dass oft die Diagnose erst deutlich verzögert gestellt wird. Beim GCSE war in 86% das erste i. v. verabreichte Medikament ein Benzodiazepin, bei Patienten mit Nicht-GCSE nur in 73%. Die Erstdosis war bei beiden Gruppen niedriger als empfohlen (bei GCSE in 76%, bei Nicht-GCSE in 78%). Insgesamt (beide Gruppen) sistierte der SE nur bei 16% der Patienten innerhalb von 30 Minuten und bei 51% innerhalb von 12 Stunden. Bei Patienten mit GCSE gelang bei 70% die Anfallsterminierung innerhalb einer Stunde nicht – ebenso nicht bei 58% der Patienten mit Nicht-GCSE innerhalb von 12 Stunden.
Zusammenfassend waren die Leitlinienempfehlungen bezüglich der medikamentösen Erstmaßnahme beim SE in den meisten Fällen nicht befolgt worden. Benzodiazepine waren grundsätzlich wirksamer als andere antikonvulsive Substanzen. Das Zeitintervall bis zur erfolgreichen Durchbrechung des Status war davon abhängig, ob Benzodiazepine eingesetzt wurden und welche kumulative Dosis verabreicht wurde. „Bis zum Eintreffen des Notarztes ist der klassische epileptische Anfall meistens schon vorüber, dann ist keine medikamentöse Intervention mehr erforderlich – im Gegenteil kann dann der Einsatz von Benzodiazepinen zu Problemen führen, die ohne Therapie eigentlich gar nicht aufgetreten wären, wie eine Unterdrückung der Atmung mit nachfolgender Intubations- und Beatmungspflicht“, erklärt Erstautor Priv.-Doz. Dr. Christoph Kellinghaus, Sektionsleitung Allgemeine Neurologie und Epileptologie/Epilepsiezentrum Münster-Osnabrück am Klinikum Osnabrück.
Es finden sich in der Studie keine Angaben zu den Gründen, weshalb die Erstbehandlung nicht gemäß den Leitlinien erfolgte. „Möglicherweise spiegelt das Ergebnis der Studie die Angst der Erstbehandler wider, durch eine zu hohe Gabe von Benzodiazepinen die Patienten im Status epilepticus in eine Ateminsuffizienz zu bringen“, vermutet Dr. Kellinghaus. Doch in der Studie konnte bei den meisten Patienten in der Klinik der SE terminiert werden, und Patienten mit hohen Benzodiazepin-Dosen, deren SE in der ersten bzw. den ersten 12 Stunden terminiert wurde, hatten kein erhöhtes Risiko, beatmet werden zu müssen. „Die Sorge vor Ateminsuffizienz sollte also keinesfalls zu einer Untertherapie führen.“
Literatur
[2]https://www.dgn.org/images/red_leitlinien/LL_2012/pdf/ll_02_2012_status_epilepticus_im_erwachsenenalter.pdf oder https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-079.html
Stand: 30.09.2012 (in Überarbeitung), gültig bis 29.09.2017
[3] Kellinghaus C, Rossetti AO, Trinka E et al. Factors predicting cessation of status epilepticus in clinical practice: Data from a prospective observational registry (SENSE). Ann Neurol 2019 Mar; 85(3):421-32