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Europawahl 2019: Wahlprogramme sind für Laien oft unverständlich
Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim analysieren Wahlprogramme auf formale Verständlichkeit und Sprache.
Bandwurmsätze mit bis zu 80 Wörtern (SPD), Wortungetüme wie „Luftschadstoffqualitäts-bestimmung“ (FDP) oder Fachbegriffe wie „Seigniorage-Programme“ (AfD): Die Wahlprogramme der Parteien zur Europawahl sind heute im Durchschnitt nach wie vor für viele Laien unverständlich. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse von Kommunikationswissenschaftlern der Universität Hohenheim in Stuttgart. Allerdings: Bei der ersten Europawahl vor 40 Jahren waren die Programme noch unverständlicher.
„Damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können, sollten Parteien ihre Positionen klar und verständlich darstellen. Die Wahlprogramme sind dabei ein Mittel, um die eigenen Positionen darzulegen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Er hat mit seinem Team die Wahlprogramme zur Europawahl 2019 untersucht.
„Verpasste Chance für mehr Transparenz und Bürgernähe“
Mit Hilfe einer Analyse-Software fahnden die Wissenschaftler um Prof. Dr. Brettschneider unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen, Fremdwörtern und zusammengesetzten Wörtern. Anhand dieser Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“. Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).
Im Durchschnitt ist die Verständlichkeit der Europawahlprogramme mit 8,1 Punkten im Vergleich zu 2014 leicht gesunken. Vor fünf Jahren lag der Mittelwert bei 8,5 Punkten. Auch ist sie niedriger als bei der Bundestagswahl 2017 (9,1 Punkte). Im Vergleich zur ersten Europawahl vor 40 Jahren ist allerdings ein Anstieg zu verzeichnen. Die Programme erreichten damals eine durchschnittliche Verständlichkeit von 7,3 Punkten. „Aber die 8,1 Punkte sind immer noch enttäuschend“, urteilt Prof. Dr. Brettschneider. „Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schließen sie jedoch einen erheblichen Teil der Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“
FDP arbeitet mit unverständlicher Sprache, Union und Die Linke sind am verständlichsten
Insgesamt schneidet das Programm von CDU/CSU mit einem Wert von 10,3 am besten ab. Die Linken (9,5) liegen auf Rang 2. Dabei setzt Die Linke ihren Trend fort: Seit 1999 hat sie ihre Verständlichkeit stetig verbessert. Auf dem dritten Platz liegt die SPD mit 8,2. Es folgen die Grünen (7,7) und die AfD (6,6). Am unverständlichsten ist das Programm der FDP (6,2). „Damit ist das Programm der FDP nur wenig verständlicher als eine politikwissenschaftliche Doktorarbeit“, stellt Prof. Dr. Brettschneider fest.
„Alle Parteien könnten verständlicher formulieren“, ist Prof. Dr. Brettschneider überzeugt. „Das beweisen gelungene Passagen in den Einleitungen und im Schlussteil. Die Themenkapitel sind hingegen das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den ‚Fluch des Wissens’. Zudem nutzen Parteien abstraktes Verwaltungsdeutsch auch, um unklare oder unpopuläre Positionen zu verschleiern. In diesem Fall sprechen wir von taktischer Unverständlichkeit.“
Verständlichkeitshürden schließen Leser aus
„Seigniorage-Programme“ (AfD), „Flexicurity“ (Die Linke), „Think-Small-Frist-Prinzip“ (FDP), „Keylogger“ (Die Linke), „Friedensfaszilität“ (AfD), „Power-to-X“ (FDP), „Notice-and-take-down-Verfahren“ (Die Grünen) oder „Dual-Use-Verordnung“ (Die Grünen): Die Programme der Parteien enthalten zahlreiche Fremd- und Fachwörter. Vor allem für Leser ohne politisches Fachwissen stellen diese eine große Verständlichkeitshürde dar.
Einen ähnlichen Effekt hätten Wortzusammensetzungen oder Nominalisierungen, so Prof. Dr. Brettschneider. Einfache Begriffe würden so zu Wort-Ungetümen, wie z.B. „Luftschadstoffqualitätsbestimmung“ (FDP), „Folgenbeseitigungsverfügungen“ (SPD) oder „Fingerabdruckidentifizierungssystem“ (CDU/CSU).
„Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis – vor allem für Wenig-Leser. Sätze sollten möglichst nur jeweils eine Information vermitteln“, erklärt Claudia Thoms, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kommunikationstheorie. „Der längste Satz findet sich im Programm der SPD mit 80 Wörtern. Aber auch bei allen anderen Parteien tauchen überlange Sätze auf. Sätze mit 30 und 40 Wörtern sind keine Seltenheit.“
Begriffsanalyse: Typische Sprachmuster
Neben der „EU“ und „Europa“ gehört „Deutschland“ zu den am häufigsten verwendeten Wörtern. Und alle Parteien wollen „stärken“, sprechen über „sollen“, „wollen“, „müssen“. Damit sind sie sich erstaunlich ähnlich – anders als sonst bei nationalen und regionalen Wahlen.
Eine Betrachtung der für die Wahlprogramme typischen Substantive, Eigennamen, Adjektive und Verben deutet auf die klassischen Themenschwerpunkte der Parteien hin. Begriffe wie „Volk“, „Nationalstaat“, „Massenzuwanderung“ und „Familienpolitik“ sind für die AfD typischer als für andere Parteien. Die Union spricht eher über „Volksgruppen“, die „Stabilitätsunion“ und „Transitzentren“. Die FDP spricht eher über „Marktwirtschaft“, „Unternehmen“, „Finanzierungsmöglichkeiten“ und „Freihandelsabkommen“. Die Grünen sind klassisch „ökologisch“ und sprechen eher über „Ressourceneffizienz“, „Lebensgrundlagen“, „Gerechtigkeit“ und „Energieeffizienz“. Bei der Linken stechen insbesondere „Lohn“ und „Beschäftigte“ heraus. Letztere sind auch für die SPD relevant. Die Sozialdemokraten sprechen über unterschiedlichste Themen, die sich grob den Bereichen Arbeit und Umwelt zuordnen lassen.
Die Hohenheimer Forscher untersuchen auch die Tonalität der Sprache in den Wahlprogrammen. Sie wird durch den Anteil negativer Begriffe im Verhältnis zum Anteil positiver Begriffe bestimmt. Die positivste Sprache verwenden bei der Europawahl 2019 die FDP und die CDU. „Auch im Schnitt über alle Wahljahre hinweg verwenden diese Parteien eine ‚positivere‘ Sprache als die restlichen Parteien“, sagt Claudia Thoms. Die negativste Sprache verwenden die Linke und die AfD in ihren Wahlprogrammen. „Die Wahljahre 2014 und 2019 gehören insgesamt zu den Europawahljahren mit der ‚negativsten‘ Sprache seit 1979“, so Claudia Thoms. Es falle auf, dass insbesondere Parteien abseits der politischen Mitte die negativste Sprache verwenden. Sie liegen im jeweiligen Wahljahr in der Regel unter dem Tonalitätsdurchschnitt.
HINTERGRUND: Die Hohenheimer Wahlprogramm-Analyse
Das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationstheorie, an der Universität Hohenheim untersucht in seiner Langzeitstudie unter anderem folgende Fragen: Kommunizieren die Parteien in ihren Wahlprogrammen so verständlich, dass die Wahlberechtigten sie verstehen können? Welche Verständlichkeits-Hürden finden sich in den Wahlprogrammen? Und welche Themen und Begriffe dominieren in den Programmen?
Inzwischen haben die Wissenschaftler mehr als 650 Landtags-, Bundestags- und Europawahlprogramme analysiert. Möglich werden diese Analysen durch die Verständlichkeits-Software „TextLab“. Die Software wurde von der Ulmer Agentur H&H CommunicationLab und von der Universität Hohenheim entwickelt. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z.B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter).
Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen. Er bildet die Verständlichkeit der Programme und Texte auf einer Skala von 0 (Schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Hörfunk-Nachrichten kommen im Schnitt auf 16,4 Punkte, Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung auf Werte zwischen 11 und 14.
Kooperation mit dem Verband der Redenschreiber deutscher Sprache
Um die in den Wahlprogrammen verwendete Sprache mit der Sprache der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten zu vergleichen, kooperiert die Universität Hohenheim mit dem Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS). Der VRdS wird bei dieser Europawahl die Reden der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten im Wahlkampf bewerten und ein Ranking erstellen. Anders als bei der letzten Wahl stehen nicht nur Auftritte im Straßenwahlkampf im Fokus, sondern auch so genannte Town Hall Meetings, also Versammlungen in Rathäusern und anderen öffentlichen Räumen. Bewertet wird nach definierten rhetorischen Kriterien – wie beispielsweise Aufbau und Struktur, Argumentation und Sprache. Abschließend werden die Analysen miteinander verglichen und der Sieger oder die Siegerin gekürt. Das Ergebnis wird voraussichtlich am 21. Mai 2019 veröffentlicht. Weitere Informationen: https://www.vrds.de/hv/eu19.php.