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In den Tiefen des Gehirns

ETH-Forscher nutzen Stimulationen des Hirns, um die Folgen von Stress zu erforschen, aber auch, um neue Therapien dagegen zu entwickeln. Vielleicht wird es dereinst sogar möglich, Hirnerkrankungen ohne Pillen buchstäblich im Schlaf zu heilen.

Auf dem Netz finden sich Videos, deren Inhalte sich im Gedächtnis festsetzen. Ein Mann sitzt mit einer Fernsteuerung in der Hand auf dem Sofa. Offensichtlich ist er an Parkinson erkrankt: Seine Hände und Arme zittern und beben. Dann hebt er die Fernsteuerung an seine Brust, drückt einen grauen Knopf – und das Zittern lässt fast augenblicklich nach.

Was man auf dem Video nicht sieht: Im Hirn des Betroffenen stecken zwei Elektroden, die mit einem auf Brusthöhe implantierten Schrittmacher verbunden sind. Auf Knopfdruck sendet der Schrittmacher elektrische Impulse in die Basalganglien, eine Gruppe von Zellkernen, welche die Bewegungsplanung steuern. Die Stimulation dieses bei Parkinson stark gestörten Hirnareals stoppt die starken motorischen Störungen fast schlagartig. Es ist geradezu gespenstisch.

«Tiefe Hirnstimulation bei Parkinson ist wohl einer der grössten Erfolge der Neurowissenschaften», sagt Johannes Bohacek, Assistenzprofessor am Institut für Neurowissenschaften der ETH Zürich. Auch bei Depressionen setzen Wissenschaftler Hirnstimulation experimentell ein, doch ein Grossteil dieser Forschung steckt noch in den Kinderschuhen. Einiges mutet mitunter wie Science-Fiction an.

Mit Viren ins Hirn

Johannes Bohacek selbst nutzt Hirnstimulationen zur Erforschung von Stress und dessen Folgen für den Organismus. «Akuter und chronischer Stress sind Risikofaktoren für psychische Erkrankungen», sagt der Neurowissenschftler. Doch Stressreaktionen zu ergründen, sei sehr kompliziert, weil sich Stress auf den gesamten Körper auswirke und viele Organe und Botenstoffe involviere. «Das erschwert es, das Phänomen Stress gezielt zu untersuchen.»

Bohacek vereinfacht daher, indem er sich auf Einzelteile konzentriert; zurzeit auf das noradrenerge System, das bei Stress eine zentrale Rolle spielt. In akuten Stresssituationen, zum Beispiel dann, wenn plötzlich ein Feueralarm losgeht, wird das Gehirn mit Noradrenalin überflutet. Dafür zuständig ist ein einziges, winziges Hirnareal, der Locus caeruleus. Er liegt wie eine Nadel im Heuhaufen tief im Hirnstamm verborgen. «Er ist für Sonden, wie sie zur tiefen Hirnstimulation genutzt werden, zu klein und zu schwer erreichbar», sagt Bohacek. Ein überaktiver Locus caeruleus liegt gewissen Angst- und Panikstörungen zugrunde. Darum sind viele Forscher und die Pharma­branche stark daran interessiert, seine Funktionen besser zu verstehen.

Um gezielt untersuchen zu können, was sich in diesem Hirnareal bei Stress abspielt, verändert der ETH-
Professor mit Hilfe von Viren gezielt Nervenzellen des Locus caeruleus. Dazu arbeitet er mit einer speziellen Maus­linie, die das Virus in den Locus caeruleus zwingt. Das Virus sorgt dafür, dass sich auf der Oberfläche der Nervenzellen ein künstlicher Rezeptor (Empfängermolekül) ausbildet.

Die Forscher verabreichen dann den Mäusen eine Substanz, die sich mit diesen Rezeptoren verbindet, damit die betreffenden Neuronen erregt werden und die Ausschüttung von Nordadrenalin bewirkt wird, ohne dass vorgängig das gesamte Stresssystem aktiviert werden musste. So können Bo­ha­cek und sein Team klären, was daraufhin im gesamten Gehirn abläuft.

Von solchen Versuchen erhofft sich der Neurowissenschaftler, die Ursachen von Stresserkrankungen besser zu verstehen. «Um griffigere Thera­pien entwickeln zu können, müssen wir erst die molekularen Stressmechanismen besser kennenlernen. Ein spannender Ansatz wäre es, die Erregbarkeit des Locus caeruleus mit ähnlichen Methoden wie der Hirnstimula­tion zu drosseln», erklärt Bohacek. «Ob und wann diese Techniken Einzug in die klinische Realität finden werden, muss sich weisen.»

Hirn-Maschinen-Schnittstelle

Neue Therapien für Hirnerkrankungen stehen auch bei Mehmet Fatih Yanik zuoberst auf der Traktandenliste. «Wir arbeiten an neuen Technologien, um Netzwerk-Fehlfunktionen bei Hirn-
erkrankungen zu korrigieren. Solche Fehlfunktionen liegen Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder Autismus zugrunde», sagt der Professor für Neurotechnologie am Institut für Neuroinformatik der ETH und der Universität Zürich.

Gehirnerkrankungen werden nach wie vor meistens mit Pillen behandelt. Dabei bindet sich ein Wirkstoff an das passende Zielmolekül in der Nervenzelle und löst dadurch eine biochemische Signalkaskade in der Zelle aus. Das ist allerdings wenig spezifisch, denn die Zielmoleküle kommen oft im gesamten Gehirn oder sogar im übrigen Körper vor, nicht nur in den Hirn­arealen, die man mit dem Medikament beeinflussen möchte.

Yanik hat deshalb eine andere Vorstellung davon, wie die Therapie von Hirnerkrankungen in Zukunft aussehen könnte. «Das ist im Moment eine reine Vision», schmunzelt er. Aber eigentlich ist es ihm ernst damit. Jüngst bewarb er sich mit diesem Projekt erfolgreich für Forschungsgelder von der EU.

Seine Idee: Eine Person liegt im Bett, den Kopf auf das Kissen gelegt, das drahtlos mit Mikrochips kommuniziert, die auf der Grosshirnrinde platziert sind. Während der Mensch schläft, übermitteln tausende von winzigen Elektroden hochaufgelöste Informationen über die Aktivität einzelner Nervenzellen an die Chips. Diese berechnen, ob die Hirnschaltkreise normal funktionieren oder ob sie pathologische Muster aufweisen und eine therapeutische Intervention notwendig wird.

Ein an den Blutkreislauf angeschlossenes Implantat gibt dann mit Wirkstoffen beladene Mikropartikel ab. Die Mikrochips aktivieren daraufhin weitere Module, die Ultraschallwellen erzeugen und sich auf eine bestimmte Stelle des Gehirns richten. Dort ballen sich die Partikel für einen kurzen Moment zusammen und setzen die Wirkstoffe frei. Auf diese Weise regulieren sie hochkonzentriert und äusserst gezielt die aus dem Lot geratenen Hirnschaltkreise.

Von der Realisation eines solchen Systems ist er zwar noch Jahrzehnte entfernt, doch einzelne Puzzleteile werden derzeit intensiv erforscht und an Tieren erprobt. Beispielsweise die mit fokussiertem Ultraschall freigesetzten Wirkstoffe. Yanik und seine Mitarbeitenden haben es vor Kurzem geschafft, mit schwachen Ultraschallwellen Mikropartikel in definierten Hirnarealen der Ratte zu konzentrieren, zu öffnen und deren Ladung – bereits für klinische Anwendungen zugelassene Wirkstoffe – freizusetzen. Yaniks Team hat zudem einen neuartigen Algorithmus entwickelt, um im Tiermodell krankhafte Hirnaktivitätsmuster zu identifizieren und die entsprechende Erkrankung zu behandeln.

Bleibt die Frage: Braucht die Menschheit wirklich ein derartiges Science-Fiction-Szenario zur Heilung von Gehirnerkrankungen? Yanik ist davon überzeugt: «Existierende Therapien genügen nicht. Vierzig der schwersten Hirnerkrankungen sind nach wie vor nicht therapierbar. Heute schlucken wir Pillen gegen psychische 
Erkrankungen oder es kommen bestenfalls elektromagnetische Strahlung oder Ultraschall zum Einsatz. Das ist ungefähr so wirksam, wie wenn man einen Supercomputer mit einem Hammer reparieren wollte.