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Diagnostik und Therapie von Tuberkulose unter MS-Immuntherapien wird wichtiger
Bei der Einstellung von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) auf eine Immuntherapie spielte die Tuberkulose (TB) viele Jahre nur bei Vorliegen bestimmter Risikofaktoren eine Rolle. Seit 2015 ist jedoch eine starke Zunahme von gemeldeten TB-Fällen in Deutschland zu beobachten. Da die reduzierte Immunantwort unter MS-Therapien mit einem potentiell erhöhten Infektionsrisiko einhergeht, hat das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie der TB erarbeitet, die nun in Der Nervenarzt online veröffentlicht wurden.
Aktuellen Schätzungen zufolge ist ein Viertel der Weltbevölkerung mit Mycobacterium tuberculosis infiziert. „Eine latente Infektion wird meist nicht bemerkt, kann jedoch auch Jahre nach der Übertragung zu einer Reaktivierung mit klinischer Manifestation führen, wenn eine Schwächung des Immunsystems eintritt. Wie hoch dieses Risiko unter MS-Immuntherapien ist, ist aufgrund fehlender Studien schwer einzuschätzen.“, erklärt Prof. Dr. Frauke Zipp, Direktorin der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Mainz und Mitglied des KKNMS-Vorstands. Gerade in Hinblick auf die zunehmende Vielfalt neu zugelassener Medikamente, die in das Immunsystem eingreifen, erarbeitete das KKNMS unter Federführung von Prof. Dr. Frauke Zipp und Prof. Dr. Stefan Bittner, ebenfalls Universitätsklinikum Mainz, nun erstmals Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der TB unter MS-Immuntherapien in Deutschland.
TB-Reaktivierungsrisiko und praktisches Vorgehen
Die KKNMS-Experten teilen die verfügbaren MS-Therapeutika in drei Kategorien ein, die unterschiedliche Vorgehensweisen erfordern: Therapien mit hohem, mit mittlerem und ohne TB-Reaktivierungsrisiko.
Therapien mit hohem TB-Reaktivierungsrisiko:
Zu dieser Gruppe von Therapien zählen Alemtuzumab und Cladribin. Vor Beginn der Therapie, sowie bei Cladribin ebenso vor Applikation des zweiten Zyklus, muss laut Fachinformationen eine TB ausgeschlossen werden. Das KKNMS schließt sich dieser Empfehlung an. Bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren kann eine Wiederholung der Testung auch vor weiteren Alemtuzumab-Zyklen erwogen werden. Dabei gilt zu beachten, dass das Testergebnis unter Immunsuppression nur eingeschränkt verwertbar sein kann.
Therapien mit mittlerem TB-Reaktivierungsrisiko:
Vor Beginn einer Therapie mit mittlerem TB-Reaktivierungsrisiko kommt der Bewertung des individuellen Risikos des einzelnen Patienten eine große Bedeutung zu. Daher empfiehlt das KKNMS eine TB-Testung für alle Patienten mit erhöhter individueller Risikosituation vor Beginn einer Therapie mit Teriflunomid, Fingolimod, Natalizumab, Dimethylfumarat, Mitoxantron und Ocrelizumab.
Als Risikofaktoren werden die folgenden Faktoren angesehen, wobei aktuell keine klare Gewichtung nach Art des Risikofaktors bzw. erhöhtem Risiko bei Vorliegen mehrerer Risikofaktoren gegeben werden kann:
Immigration aus Ländern mit hoher TB-Prävalenz, Leben in Risikogebiet (Großstadt), positive Familienanamnese für TB, abgelaufene TB in den letzten 2 Jahren, Nikotin-, Alkohol-, Drogenmissbrauch, BMI unter 20, Vortherapie mit mehreren Immuntherapien, wiederholte Kortisonstoßtherapien, andere Gründe für Immunschwäche (z.B. Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz).
Therapien ohne Reaktivierungsrisiko:
Unter Therapie mit Glatirameracetat und Interferon-beta ist nicht von einer Erhöhung des Risikos einer TB-Reaktivierung auszugehen, sodass hier keine gesonderte Testung empfohlen wird.
Tuberkulose-Diagnostik
Wird eine Testung auf eine TB-Infektion erforderlich, so eignen sich in Ländern mit niedriger Prävalenz wie Deutschland sogenannte Interferon-gamma release assays (IGRAs), z.B. QuantiFERON-TB Gold in-tube assay. Bei einem positiven Testergebnis wird eine weiterführende Diagnostik zur Unterscheidung zwischen einer latenten und einer aktiven TB notwendig. Zum Ausschluss einer aktiven TB sollten eine fokussierte Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung sowie ein Röntgen-Thorax in zwei Ebenen, in Zweifelsfällen ergänzt durch eine computertomographische Untersuchung, erfolgen. Wenn sich daraus Hinweise auf das Vorliegen einer pulmonalen TB ergeben, sollten eine mikrobiologische und molekularbiologische Untersuchung folgen.
Therapie der Tuberkulose vor einer MS-Behandlung
Die zur Verfügung stehenden Therapien zur Behandlung der TB haben ein breites Nebenwirkungsspektrum. Daher ist bei Nachweis einer latenten Tuberkulose eine strenge Risiko-Nutzen-Abwägung vor Beginn einer präventiven Therapie erforderlich. In jedem Fall sollte eine verlaufsmodifizierende MS-Therapie nicht bis nach Abschluss der Chemoprävention verzögert werden, sondern kann 4-8 Wochen nach deren Beginn initiiert werden.
Eine aktive TB sollte jedoch vor Beginn einer MS-Therapie in enger interdisziplinärer Abstimmung behandelt werden. Nur in Einzelfällen bei hochaktiven Verläufen kann nach strenger Risiko-Nutzen-Abwägung die MS-Therapie auch vor Abklingen der Infektion begonnen werden.
Das oben beschriebene Vorgehen ist eine Zusammenfassung des Originalartikels des KKNMS aus Der Nervenarzt. Für detailliertere Informationen rufen Sie bitte die angegebene Quelle ab.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Federführende Autoren:
Universitätsmedizin Mainz: Prof. Dr. Frauke Zipp, Prof. Dr. Stefan Bittner; Forschungszentrum Borstel: Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Lange.
Originalpublikation:
Bittner S, Engel S, Lange C et al. Diagnostik und Therapie von Tuberkulose unter Immuntherapien für Multiple Sklerose. Nervenarzt (2019). https://doi.org/10.1007/s00115-019-0760-0