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Neue Erkenntnisse zu Krebs- und Autoimmunerkrankungen durch seltenen Gendefekt

Auch wenn Autoimmunerkrankungen häufig vorkommen, fehlt uns in vielen Fällen ein Verständnis der zugrundeliegenden Mechanismen. In einer neuen Studie konnte das Team von Kaan Boztug über die Entdeckung einer neuen seltenen Erkrankung jetzt ein Schlüsselmolekül identifizieren, das für das Gleichgewicht im Immunsystem und somit die Verhinderung von Autoimmunität entscheidend ist. Die Forscher konnten aufgrund Ihrer Erkenntnis eine zielgerichtete Therapie identifizieren, die bei einem betroffenen Kind erfolgreich eingesetzt wurde. Die Ergebnisse der Studie wurden in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Was passiert, wenn der Körper nicht zwischen körpereigenen Zellen und körperfremden Erregern unterscheiden kann? Es kommt zu Angriffen auf die eigenen Organe und das Gewebe. Betroffene Patienten leiden an einer sogenannten Autoimmunerkrankung. Normalerweise lernen die körpereigenen Abwehrzellen, darunter auch die sogenannten T-Zellen, zwischen Zellen des Körpers und Krankheitserregern zu unterscheiden – man spricht hierbei von Immuntoleranz. Ist diese Immuntoleranz allerdings gestört, so attackieren die T-Zellen den eigenen Körper.

Je früher im Leben eine schwere Autoimmunität auftritt – also insbesondere im frühen Kindesalter – desto eher besteht die Möglichkeit, dass eine angeborene Regulationsstörung des Immunsystems zugrunde liegt. Das Team von Kaan Boztug am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI RUD), der St. Anna Kinderkrebsforschung (CCRI), dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Medizinischen Universität Wien, beforscht die molekularen Ursachen schwerster Störungen im Immungleichgewicht. In diesem Fall untersuchten die ForscherInnen in Kollaboration mit KollegInnen aus den USA, Schweden und Großbritannien, eine kleine Patientin, die seit Geburt an einer besonders schweren und verschiedene Organe betreffenden Autoimmunität litt. Um den Betroffenen zu helfen, haben Boztug und sein Forscherteam modernste genetische Verfahren (Next-Generation Sequencing) eingesetzt und damit erstmals diesen Gendefekt entdeckt. „Uns ist eine Veränderung in der Gensequenz für das Protein DEF6 aufgefallen, die zum Einbau einer falschen Aminosäure in das Protein führt. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte Missense-Mutation, die zu einer Veränderung der Struktur und dem Abbau des Proteins führt“, erklärt Co-Erstautorin Birgit Höger. Die WissenschaftlerInnen konnten somit eine neue seltene Erkrankung identifizieren und in der Folge zeigen, wie DEF6 einen anderen Schlüsselfaktor im Immungleichgewicht, CTLA-4, steuert – dieser Mechanismus war bis dato vollkommen unbekannt. Basierend auf diesen Erkenntnissen, konnte bei der jungen Patientin ein bereits zugelassener Wirkstoff erfolgreich zur Behandlung eingesetzt werden. „Wir sind überzeugt, dass diese Behandlung auch bei vielen anderen Betroffenen zu einem Therapieerfolg führen kann“, so Co-Erstautorin Nina Serwas. CTLA-4 rückte erst vor Kurzem in den Fokus der breiten Öffentlichkeit, als im Jahr 2018 der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für Arbeiten zu Krebstherapien durch Hemmung von negativen Immunreaktionen vergeben wurde. Neben der Möglichkeit, CTLA-4 zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen einzusetzen, stellt es zudem einen wichtigen Schlüssel für Immuntherapien im Kampf gegen Krebserkrankungen dar.

„Die Erforschung seltener Erkrankungen ermöglicht Erkenntnisse über fundamentale Prozesse der menschlichen Physiologie und hilft uns dabei, Therapien in Fällen zu finden, in denen die konventionellen Ansätze versagen. Wir sind über diese Erkenntnisse hocherfreut, da sie extrem wichtig sind für das Verständnis von Autoimmunität – und zugleich möglicherweise einen neuen Angriffspunkt für Krebs-Immuntherapien ermöglichen“ erklärt Kaan Boztug.

Weiterführende Informationen: vom Gendefekt über den molekularen Mechanismus zum Wirkstoff.

Da die Patienten ähnliche Symptome wie bei bereits bekannten Gendefekten aufwiesen, die zu vermindertem CTLA-4 führen, untersuchten die WissenschaftlerInnen die Patienten gezielt auf die Funktionsweise dieses Proteins. CTLA-4 ist eines der zentralen Moleküle in der Immuntoleranz und der Regulierung von Immunantworten. Ist zu wenig CTLA-4 vorhanden, so bleiben die Immunsignale in den T-Zellen durchgehend angeschaltet, was zu Autoimmunreaktionen führt. Bei den untersuchten Patienten konnten Boztug und sein Team zeigen, dass CTLA-4 nicht richtig an die Zelloberfläche transportiert werden kann und daher die aktivierenden Signale anderer Körperzellen nicht abgeschaltet werden können. Die therapeutischen Möglichkeiten ergeben sich durch die Verabreichung von CTLA-4, welches das fehlende Protein an der Oberfläche der T-Zellen ausgleicht.

Den Forschern gelang es zudem nachzuweisen, dass DEF6 eine wichtige Rolle beim Transport von CTLA-4 spielt. Hierbei fungiert das Protein RAB11 als Bindeglied zwischen DEF6 und dem CTLA-4-Transport. Den Forschern gelang es nicht nur die Rolle von DEF6 in der Entstehung von Autoimmunität aufzuklären, sie lieferten zudem neue Erkenntnisse zur Regulierung von CTLA-4.

Zusammenhang Krebs und Autoimmunerkrankung

CTLA-4 stellt einen Angriffspunkt für Krebstherapien dar, da es bei bestimmten Krebsarten wünschenswert sein kann, CTLA-4 zu blockieren und somit die Immunabwehr und Bekämpfung von Krebszellen zu steigern. Aktiviert man CTLA-4, so erzielt man eine Abschwächung von Autoimmunerkrankungen. Blockiert man hingegen CTLA-4, so werden Krebszellen besser bekämpft. Für Kaan Boztug, seit 2019 neuer Wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung (St. Anna Children´s Cancer Research Institute, CCRI), ist diese Verbindung von Autoimmunität und Krebsentstehung ein zentraler Forschungszweig seiner Arbeitsgruppe.

Publikation

Serwas NK*, Hoeger B*, Ardy RC, Stulz SV, Sui Z, Memaran N, Meeths M, Krolo A, Petronczki ÖY, Pfajfer L, Hou TZ, Halliday N, Santos-Valente E, Kalinichenko A, Kennedy A, Mace EM, Mukherjee M, Tesi B, Schrempf A, Pickl WF, Loizou JI, Kain R, Bidmon-Fliegenschnee B, Schickel JN, Glauzy S, Huemer J, Garncarz W, Salzer E, Pierides I, Bilic I, Thiel J, Priftakis P, Banerjee PP, Förster-Waldl E, Medgyesi D, Huber WD, Orange JS, Meffre E, Sansom DM, Bryceson YT, Altman A, Boztug K (2019). Human DEF6 deficiency underlies a novel immunodeficiency syndrome with systemic autoimmunity and aberrant CTLA-4 homeostasis. Nat Commun 10(1):310 (* shared first authorship)

Förderungen

Diese Studie wurde unterstützt von: FWF der Wissenschaftsfonds (FWF P24999-B13, P29951-B30, FWF T934-B30 (Hertha Firnberg Programm)), European Research Council (ERC grant agreement 310857), Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW DOC Stipendienprogramm 24486).

Über das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases

Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet. Die drei Partnerinstitutionen stellen gemeinsam mit dem CeRUD die wichtigsten Kooperationspartner des LBI-RUD dar, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Entschlüsselung von seltenen Erkrankungen des Immunsystems, der Blutbildung, und des Nervensystems liegt – diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neue Einblicke in die Humanbiologie. Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.
Weitere Informationen: www.rarediseases.at

Über die St. Anna Kinderkrebsforschung

Die St. Anna Kinderkrebsforschung (Children’s Cancer Research Institute – CCRI), 1988 gegründet, entwickelt und optimiert diagnostische, prognostische und therapeutische Strategien zur Behandlung von an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen durch das Verbinden von Grundlagenforschung mit translationaler und klinischer Forschung. Dabei wird der Schwerpunkt auf die spezifischen Besonderheiten kindlicher Tumorerkrankungen gelegt, um den jungen Patientinnen und Patienten die bestmöglichen und innovativsten Therapien zur Verfügung stellen zu können. Rund 120 WissenschaftlerInnen und Studierende sind in der St. Anna Kinderkrebsforschung in laufende Forschungsprojekte involviert. Derzeit arbeiten fokussierte Arbeitsgruppen auf den Gebieten der Tumorgenomik und -epigenomik, der Immunologie, der Molekularbiologie, der Zellbiologie, der Bioinformatik und der klinischen Forschung zusammen, um wissenschaftlich-experimentelle Erkenntnisse mit den klinischen Bedürfnissen der ÄrztInnen in Einklang zu bringen. Jährlich erkranken in Österreich etwa 250 Kinder und Jugendliche an Krebs. Dank der interdisziplinären Forschungsarbeit auf internationaler Ebene können von den betroffenen Kindern bereits 70 bis 80 % geheilt werden.
Weitere Informationen: www.kinderkrebsforschung.at und www.ccri.at

CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
Weitere Informationen: www.cemm.at

Medizinische Universität Wien

Die Medizinische Universität Wien (kurz: MedUni Wien) ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 MitarbeiterInnen, 27 Universitätskliniken und drei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich.
Weitere Informationen: www.meduniwien.ac.at