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Ungewöhnliches Hepatitis-B-Virus in Spitzmäusen entdeckt
Studie von internationalen Forscherteams eröffnet neue Möglichkeiten zur Erforschung der Pathogenese der Viren – Hepatitis-B-Viren existieren seit Millionen Jahren
Infektionen mit dem Hepatitis-B-Virus (HBV) sind eines der großen globalen Gesundheitsprobleme. Mehr als 240 Millionen Menschen sind weltweit mit diesem Virus chronisch infiziert und über 887.000 Infizierte sterben jährlich an den Spätfolgen der Infektion wie Leberzirrhose und Leberkrebs. Neue Möglichkeiten, die HBV-Pathogenese zu untersuchen, ergeben sich aus der Entdeckung eines ungewöhnlichen HBV der Spitzmaus: Diesem Virus fehlt ein wichtiger Immunmodulator, der für die Chronifizierung der Infektion bedeutsam ist. Dies konnten die Teams von Prof. Dr. Dieter Glebe, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Hepatitis-B- und D-Viren am Institut für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und Prof. Dr. Jan Felix Drexler vom Institut für Virologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin gemeinsam mit weiteren Arbeitsgruppen aus dem In- und Ausland nun nachweisen. Von der JLU ist zudem die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Joachim Geyer, Institut für Pharmakologie und Toxikologie am Fachbereich Veterinärmedizin, an der Studie beteiligt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten rund 700 Spitzmaus-Proben aus Europa und Afrika. Ihre Studie zeigt zudem, dass das HBV bereits seit Millionen von Jahren in Säugetieren existiert. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht.
Die Chronifizierung der HBV-Infektion, die besonders häufig bei Infektionen von Neugeborenen oder im Kindes- und Jugendalter auftritt und oft jahrzehntelang unerkannt bleibt, bildet eines der wesentlichen Merkmale dieser Viruserkrankung. Bei allen bislang bekannten HBV der Säugetiere, auch bei dem des Menschen, wird die Chronifizierung der Infektion von dem viralen Protein HBeAg ermöglicht. Dieses Protein bildet das Virus während der Infektion. Es unterdrückt als Immunmodulator die spezifische Immunabwehr des Körpers gegen das HBV, so dass die Infektion nicht ausheilen kann und chronisch verläuft – oft mit sehr hohen Viruskonzentrationen im Blut. Beim Fehlen dieses viralen Proteins kann das Immunsystem des Körpers hingegen die beginnende Infektion erfolgreich bekämpfen.
Die neu entdeckten HBV der Spitzmäuse besitzen erstaunlicherweise nicht die genetische Fähigkeit, den Immunmodulator HBeAg zu produzieren. Trotz der Abwesenheit von HBeAg zeigten die infizierten Tiere hohe HBV-Viruskonzentrationen im Blut. „Dies weist auf eine sehr erfolgreiche, aber ungewöhnliche Infektionscharakteristik und Verbreitung des Spitzmaus-HBV in seinen Wirten hin“, so Prof. Glebe. „Da das Virus nicht in der Lage ist, menschliche Leberzellen zu infizieren, kann eine Infektion des Menschen mit diesen Viren mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Von einer Gefahr für die Bevölkerung bei Kontakt mit HBV-infizierten Spitzmäusen ist daher nicht auszugehen.“ Spitzmäuse stehen unter Artenschutz und sind wichtiger Bestandteil des Ökosystems. In früheren Arbeiten konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen, dass andere Säugetiere als der Mensch ihre eigenen HBV-Arten tragen und dass manche dieser tierischen Viren sogar menschliche Zellen infizieren können.
Die zweite Besonderheit des nun entdeckten Virus ist, dass es nicht den bislang beim Menschen- und Affen-HBV bekannten Leber-Gallensäuren-Transporter zum Eintritt in seine Zielzellen nutzt, sondern einen bislang unbekannten Weg in die Zelle nimmt. „Wir kennen also immer noch nicht alle HBV-Rezeptormoleküle“, sagt Prof. Drexler. „Drittens zeigen unsere evolutionsbiologischen Untersuchungen, dass Hepatitis-B-Viren seit Jahrmillionen in Säugetieren existieren, vermutlich seit 80 Millionen Jahren.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen nun das ungewöhnliche Infektionsverhalten dieser Spitzmaus-HBV weiter untersuchen, die ohne den zentralen Immunmodulator HBeAg auskommen. Trotz enormer internationaler Anstrengungen konnte bislang keine effektive Therapie zur Heilung der chronischen Hepatitis B entwickelt werden. Dies liegt unter anderem daran, dass keine einfachen Tiermodelle existieren, mit denen die komplexen Wechselwirkungen der Virusinfektion mit dem Immunsystem des Wirts untersucht werden können. „Die jetzt entdeckten HBV der Spitzmäuse lassen ein geeignetes Modell zur Untersuchung der HBV-Infektion in greifbare Nähe rücken“, so Prof. Glebe.
Die Arbeiten der JLU-Teams von Prof. Glebe und Prof. Geyer wurden hauptsächlich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 1021 erbracht, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Beteiligt an der Studie sind die JLU, die Charité, die Universität Bonn, das Universitätsklinikum Freiburg, das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, das Friedrich-Loeffler-Institut in Greifswald/Riems sowie Universitäten und Institute in Sierra Leone, Nigeria, der Elfenbeinküste, Lettland und Russland.
Die 1607 gegründete Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) ist eine traditionsreiche Forschungsuniversität, die rund 28.000 Studierende anzieht. Neben einem breiten Lehrangebot – von den klassischen Naturwissenschaften über Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften bis hin zu Sprach- und Kulturwissen¬schaften – bietet sie ein lebenswissenschaftliches Fächerspektrum, das nicht nur in Hessen einmalig ist: Human- und Veterinärmedizin, Agrar-, Umwelt- und Ernährungswissenschaften sowie Lebensmittelchemie. Unter den großen Persönlichkeiten, die an der JLU geforscht und gelehrt haben, befindet sich eine Reihe von Nobelpreisträgern, unter anderem Wilhelm Conrad Röntgen (Nobelpreis für Physik 1901) und Wangari Maathai (Friedensnobelpreis 2004). Seit dem Jahr 2006 wird die Forschung an der JLU kontinuierlich in der Exzellenzinitiative bzw. der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern gefördert.
Originalpublikation:
Publikation
Rasche et al.: Highly diversified shrew hepatitis B viruses corroborate ancient origins and divergent infection patterns of mammalian hepadnaviruses
DOI: 10.1073/pnas.1908072116 https://doi.org/10.1073/pnas.1908072116
Weitere Informationen:
https://doi.org/10.1073/pnas.1908072116
http://www.uni-giessen.de/fbz/fb11/institute/klinik/virologie/mitarbeiter/agleit…