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Zwischen Immunität und Krebsentstehung: Wiener Wissenschaftler entdecken neuartiges Immundefizienz-Syndrom
Erstmals konnte die Forschungsgruppe um Kaan Boztug am Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases ein bisher unbekanntes Immundefizienz-Syndrom nachgewiesen werden, das auf einer verminderten Funktionalität des Enzymkomplexes Polymerase delta beruht und wichtige Erkenntnisse zur adaptiven Immunität und Krebsentstehung bringt. Dieses Enzym ist eine wesentliche Steuereinheit in der DNA-Replikation. Wird es aufgrund von Mutationen in seiner Funktion beeinträchtigt, führt dies zu genomischer Instabilität, neurologischen Entwicklungsstörungen und Immundefizienz. Die Studie wurde aktuell im renommierten Journal of Clinical Investigation veröffentlicht.
Wien, 28.08.2019. Gene sind Grundbausteine des Lebens und daher von essenzieller Wichtigkeit. Die für deren Vervielfältigung verantwortlichen Faktoren sind daher in fast allen Lebewesen in sehr ähnlicher Weise vorhanden und haben sich über die Jahrtausende kaum verändert. Ein solcher Faktor ist beispielsweise die Polymerase delta. Dieser Enzymkomplex ist nicht nur für die DNA-Replikation, sondern auch für die Stabilisierung des Genoms und die Regulierung des Zellzyklus ein zentrales Element. Polymerase delta setzt sich aus vier Bausteinen zusammen: POLD1 und die zusätzlichen Untereinheiten POLD2, POLD3 und POLD4. Organismen, die schwere Störungen solcher DNA-Polymerasen aufweisen, sind häufig nicht lebensfähig, was deren Beforschung naturgemäß erschwert.
Unter der Federführung von Kaan Boztug konnten ForscherInnen des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD), des CeMM Forschungzentrums für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie der Medizinischen Universität Wien gemeinsam mit Kollaborationspartnern von der Universität Istanbul und der Universität Leiden erstmals zwei Patienten mit einem neuartigen Immunschwäche-Syndrom identifizieren, das auf einer verminderten Funktionalität von Polymerase delta beruht. Konkret konnten bei den nicht verwandten Patienten biallele Keimbahnmutationen, also von beiden Eltern vererbte Genveränderungen, in POLD1 und in POLD2 nachgewiesen werden. In beiden Fällen führte dies zu einem Immundefizienz-Syndrom mit wiederkehrenden Atemwegsinfektionen, Hautproblemen und neurologischen Entwicklungsstörungen. Bei genauerer Untersuchung der Krankheitsmechanismen stellte sich heraus, dass der Zellzyklus in den Lymphozyten beider Patienten beeinträchtigt war. So traten bei der DNA-Replikation vermehrt Kopierfehler auf, die in der Zelle zu Warnmarkierungen auf der DNA führen und dadurch verantwortlich für die Funktionsstörung des Zellzyklus waren.
Da in diesem Fall nicht wie bei anderen Immunschwäche-Syndromen ein immunspezifischer Faktor gestört ist, sondern eine Grundfunktion der Zelle, liefern die diesem Syndrom zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen interessanterweise außerdem Schlüsselinformationen für andere Krankheitsbilder wie zum Beispiel Kinderkrebs. Obwohl Immunzellen hier besonders betroffen waren, ist der Mechanismus, durch den Polymerase delta die Genomduplikation steuert, relevant für die Funktion aller Zellen. Eine Störung kann dramatische Konsequenzen im Gleichgewicht des Zellwachstums nach sich ziehen. So weiß man, dass bestimmte Mutationen in POLD1 zur Entstehung des „Mutator-Phänotyps“ beitragen, der zu genetischer Instabilität und damit zur Krebsentstehung beiträgt. Entsprechend ist POLD1 in einer internationalen Klassifizierung als hochgefährlicher Krebsverursacher eingestuft. Die hier beschriebenen angeborenen POLD1/2-Mutationen führen hingegen zu einer verminderten intrinsischen Aktivität (der „eigentlichen Aufgabe“) der Polymerase delta, mit möglicherweise erhöhter Neigung zur Krebsentstehung im Sinne eines Krebs-Prädispositionssyndroms. Die vorliegende Studie soll auch für die Identifizierung weiterer Patienten sensibilisieren, um eine systematische Analyse des Krebsrisikos bei betroffenen Kindern und Kindern mit verwandten Krankheitsbildern zu ermöglichen.
Publikation:
“Polymerase δ deficiency causes syndromic immunodeficiency with replicative stress”
Cecilia Domínguez Conde*, Özlem Yüce Petronczki*, Safa Baris*, Katharina L. Willmann*, Enrico Girardi, Elisabeth Salzer, Stefan Weitzer, Rico Chandra Ardy, Ana Krolo, Hanna Ijspeert, Ayca Kiykim, Elif Karakoc-Aydiner, Elisabeth Förster-Waldl, Leo Kager, Winfried F. Pickl, Giulio Superti-Furga, Javier Martínez, Joanna Loizou, Ahmet Ozen, Mirjam van der Burg, und Kaan Boztug; veröffentlicht in “The Journal of Clinical Investigation”. J Clin Invest. 2019 Aug 26. pii: 128903. doi: 10.1172/JCI128903. (*shared first authorship)
Durchführung und Förderungen:
Die meisten experimentellen Analysen und Interpretation der klinischen Daten wurden von den geteilten Erstautoren Cecilia Dominguez Conde, Özlem Yüce Petronczki, Safa Baris und Katharina Willmann durchgeführt. Die Studie wurde im Rahmen des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD), der St. Anna Kinderkrebsforschung, des CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der MedUni Wien sowie aus Fördermitteln des European Research Council (ERC StG 310857), der Österreichischen Nationalbank (ÖNB Jubiläumsfonds 16385), dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF Lise Meitner Fellowship M1809) und der Jeffrey Modell Foundation realisiert.
Über Kaan Boztug:
Kaan Boztug, geboren in Eregli/Türkei, studierte Medizin in Düsseldorf, Freiburg und London. 2011 kam er als Principal Investigator ans CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW nach Wien und baute dort eine Forschungsgruppe auf. Er ist als Arzt und Professor für Kinder- und Jugendheilkunde an der MedUni Wien und am St. Anna Kinderspital tätig, leitet seit 2014 das Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases (CeRUD) und ist seit 2016 Direktor des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases. Seit März 2019 ist er außerdem Wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung.
Über das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases
Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet. Die drei Partnerinstitutionen stellen gemeinsam mit dem Center for Rare and Undiagnosed Diseases (CeRUD) die wichtigsten Kooperationspartner des LBI-RUD dar, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Entschlüsselung von seltenen Erkrankungen des Immunsystems, der Blutbildung, und des Nervensystems liegt – diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neue Einblicke in die menschliche Biologie. Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.
Weitere Informationen: www.lbg.ac.at und www.rarediseases.at
Über die St. Anna Kinderkrebsforschung
Die St. Anna Kinderkrebsforschung (St. Anna Children’s Cancer Research Institute (CCRI)), 1988 gegründet, entwickelt und optimiert diagnostische, prognostische und therapeutische Strategien zur Behandlung von an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen durch das Verbinden von Grundlagenforschung mit translationaler und klinischer Forschung. Dabei wird der Schwerpunkt auf die spezifischen Besonderheiten kindlicher Tumorerkrankungen gelegt, um den jungen Patientinnen und Patienten die bestmöglichen und innovativsten Therapien zur Verfügung stellen zu können. Rund 120 WissenschaftlerInnen und Studierende sind in der St. Anna Kinderkrebsforschung in laufende Forschungsprojekte involviert. Derzeit arbeiten fokussierte Arbeitsgruppen auf den Gebieten der Tumorgenomik und -epigenomik, der Immunologie, der Molekularbiologie, der Zellbiologie, der Bioinformatik und der klinischen Forschung zusammen, um wissenschaftlich-experimentelle Erkenntnisse mit den klinischen Bedürfnissen der ÄrztInnen in Einklang zu bringen.
Jährlich erkranken in Österreich etwa 250 Kinder und Jugendliche an Krebs. Dank der interdisziplinären Forschungsarbeit auf internationaler Ebene können von den betroffenen Kindern bereits 70 bis 80 % geheilt werden.
Weitere Informationen: www.kinderkrebsforschung.at und www.ccri.at
CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
Weitere Informationen: www.cemm.at
Medizinische Universität Wien
Die Medizinische Universität Wien (kurz: MedUni Wien) ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 MitarbeiterInnen, 27 Universitätskliniken und drei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich.
Weitere Informationen: www.meduniwien.ac.at
Presseaussendung – Wiener Wissenschaftler entdecken neuartiges Immundefizienz-Syndrom
Darstellung der POLD-Defizienz, © The Journal of Clinical Investigation, Artwork Tatjana Hirschmugl