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Prosopagnosie: Leben mit Gesichtsblindheit

Jemanden auf den ersten Blick zu erkennen, ist für die meisten Menschen selbstverständlich. Zumindest, wenn es sich um eine Person des nahen Umfelds handelt. Einer von 40 Menschen aber hat selbst beim Erkennen der Gesichter seiner Bekannten große Probleme – mit den entsprechenden sozialen Folgen. Prosopagnosie, also Gesichtsblindheit heißt das Phänomen und kann von Fall zu Fall unterschiedlich schwer ausgeprägt sein.
ukm/aw

Dr. Sabine Holicki (60) bekam erst kurz vor ihrem 30. Geburtstag eine unerwartete Erklärung dafür, warum sie sich Gesichter ein-fach nicht merken konnte – immer wieder hatte das auch Rückwirkungen auf ihre sozialen Beziehungen. „Ich hatte bis zu diesem Moment geglaubt, ich wäre im Umgang mit meinen Mitmenschen einfach nur nicht aufmerksam genug“, stellt die Kommunikationsexpertin rückblickend fest. Bei den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit zum Thema „Bildverarbeitung im Gehirn“ stieß sie eher zufällig darauf, dass es sich um eine anerkannte Wahrnehmungsstörung und nicht bloß um Unaufmerksamkeit handeln könnte. „Ich bin fast an die Decke geschossen – ich bin nicht schuld, mein Gehirn kann es nur nicht anders“, so die schlagartige Erkenntnis.

Gesichtsblindheit, oder die sogenannten Prosopagnosie, haben neuesten Studien zufolge rund eine von 40 Personen. „Das sind zwei bis drei Prozent der Bevölkerung“, so Prof. Ingo Kennerknecht, vom Institut für Humangenetik am UKM (Universitätsklinikum Münster). In Studien hat er nachgewiesen, dass die Prosopagnosie unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann und fast immer genetisch vererbt wird. Auch in der Familie von Sabine Holicki ist das der Fall: ihr jüngerer Bruder ist ebenfalls betroffen. „Als wir uns als Geschäftsreisende auf dem Frankfurter Flughafen einmal zufällig auf der Rolltreppe begegnet sind, hat es bei uns beiden sehr lange gedauert, bis der Aha-Effekt eintrat. Ich kannte meinen Bruder einfach nicht im Anzug.“

Weil Holicki Gesichter nicht, wie andere, ganzheitlich speichern und schnell abrufen kann, versucht sie, ihre Kontakte möglichst mit deren persönlichen Eigenarten im Gedächtnis zu verknüpfen: Statur, Frisur, Kleidungsstil, Stimme, Gangart, Gestik oder auch auffällige Muttermale können das Erinnern zumindest unterstützen. „Schwierig wird es dagegen, wenn jemand seine Frisur oder die Haarfarbe verändert oder wir uns an einem unerwarteten Ort begegnen“, sagt Holicki. „Dadurch ist es schon zu so einigen Verwicklungen gekommen. Denn natürlich ist es für Bekannte oder Geschäftspartner irritierend, wenn jede Begegnung wie die erste ist.“

Die Prosopagnosie ist keine Erkrankung, sondern ein kognitives Störungsbild. „Am ehesten kann man das Phänomen vielleicht mit einer Wahrnehmungsstörung wie einer ausgeprägten Namensschwäche vergleichen“, sagt Kennerknecht. „Man findet sie häufiger mit ADHS oder eventuell einer Autismusspektrumstörung assoziiert. Ein Zusammenhang wird diskutiert, ist aber noch nicht verstanden. Gesichtsblindheit ist noch wenig erforscht. Heilbar ist sie nicht, es gibt jedoch effektive Kompensationsstrategien.“
Studien legen außerdem nahe, dass Prosopagnosie eventuell mit Hochbegabung korreliert: Zumindest ist Gesichtsblindheit unter Hochbegabten überdurchschnittlich häufig vertreten.

Mit den Jahren hat Holicki gelernt, mit der Gesichtsblindheit umzugehen. Sie braucht ungefähr zehn Treffen, um ein Gesicht „auswendig zu lernen“. Während Sabine Holickis Freunde natürlich über diese Besonderheit Bescheid wissen, ist es für die Beraterin und Trainerin insbesondere im Job schwieriger. „Gerade am Anfang rede ich meine Kunden nicht mit Namen an, um Verwechslungen auszuschließen. Auf gar keinen Fall weihe ich sie direkt in mein Problem ein – im Beruf schreckt das Menschen eher ab als dass es Vertrauen fördert.“

Die Wissenschaft versucht das Phänomen Prosopagnosie mit eingehenden Untersuchungen im MRT besser zu verstehen, kann aber keine Therapien anbieten, da die Ursache ja genetischer Natur ist. Die Sechzigjährige stört das nicht. „Ich bin privat und beruflich bisher gut durchs Leben gekommen. Nur weil ich einen Speicherdefekt irgendwo hinten links im Gehirn habe und bei mir die Prozesse eben anders ablaufen als bei anderen, heißt das nicht, dass ich defizitär bin.“

Factsheet Prosopagnosie

•    Hinweise auf Prosopagnosie finden sich bereits in der griechischen Antike. Das Defizit wurde erstmals 1947 vom deutschen Psychiater und Neurologen Joachim Bodamer anhand dreier Patienten mit Hirnverletzungen wissenschaftlich eingeführt. Dieser prägte auch das Kunstwort „Prosopagnosie“, das er aus den griechischen Wörtern für „Gesicht“ und „Nichterkennen“ ableitete.

•    Die erworbene Form nach Enzephalitis, Hirntrauma oder -infarkt ist aber sehr selten. Erst seit 1976 kennt man die angeborene (kongenitale) Form. Prof. Ingo Kennerknecht vom Institut für Humangenetik am UKM konnte in seinen zusammen mit anderen Wissenschaftlern seit 2001 betriebenen Studien zeigen, dass die angeborene Prosopagnosie mit einer weltweiten Prävalenz von 2 bis 3 Prozent sehr häufig ist und praktisch immer familiär auftritt.
Kennerknecht, T. Grueter, B. Welling, S. Wentzek, J. Horst, S. Edwards, M. Grueter: First report of prev-alence of non-syndromic hereditary prosopagnosia (HPA). (PDF) In: Am J Med Genet. Part A 140A. 2006, S. 1617–1622, doi:10.1002/ajmg.a.31343, PMID 16817175.

•    Mit funktionellen und bildgebenden Verfahren wie EEG (Elektroenzephalografie) und fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) versucht man den neurologischen Hintergrund abzuklären. Zur Diagnostik sind diese Methoden bislang nicht geeignet. Verhaltenspsychologische Tests, wie der Cambridge Face Memory Test (CMFT), sind derzeit die diagnostische Methode der Wahl, erlauben aber nicht in jedem Fall die Diagnose.

•    Weltweit gibt es große Anstrengungen, die zugrundeliegende Genetik abzuklären – ohne bislang Gene gefunden zu haben, die mit dem Auftreten der Prosopagnosie in Verbindung gebracht werden können. Da die Prosopagnosie angeboren ist, gibt es derzeit keine ursächliche Therapie, wohl aber entwickeln Betroffene von sich aus gute Kompensationsstrategien. Weil sich Betroffene dessen oft nicht bewusst sind, wird das Phänomen im Alltag nicht thematisiert und erklärt daher, warum es praktisch nicht bekannt ist.