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Die Karte zur Wirkstoff-Schatzkammer

Jenaer Wissenschaftler entwickeln ein Modell der Evolution von Biosynthesewegen

Jena. Bereits kleine genetische Veränderungen führen zu einer atemberaubenden Vielzahl an bakteriell gebildeten Naturstoffen. Das Team um den Jenaer Biochemiker Pierre Stallforth untersuchte, wie sich die Biosynthese von Naturstoffen im Laufe der Evolution veränderte. Die Ergebnisse veröffentlichte er in der Fachzeitschrift „Chemical Science“ der britischen „Royal Society of Chemistry“. Diese Mechanismen zu verstehen, bedeutet auch, gezielt wirksame Substanzen aufzuspüren. Sie könnten beispielsweise als dringend benötigte neue Antibiotika oder Krebsmedikamente eingesetzt werden.

Bakterien bilden Naturstoffe in den meisten Fällen aus einfachen Bausteinen in einer mehr oder weniger komplizierten Abfolge chemischer Reaktionen. Die hierfür verantwortlichen Gene sind häufig in Gruppen angeordnet, den Biosynthese-Genclustern. Jedes dieser Gene verschlüsselt ein Enzym, das einen bestimmten Reaktionsschritt katalysiert. Vergleichbar ist dies mit einer Fertigungsstraße für Automobile, an der jeder einzelne Roboter eine ganz bestimmte Aufgabe übernimmt.

Die Evolution von Biosynthesewegen

Nun erfindet die Natur nicht jeden Biosyntheseweg völlig neu. Vielmehr werden bekannte Module einer längeren Synthesekette ausgetauscht, verdoppelt oder wechseln in der Reihenfolge ihre Position. Es ist ökonomischer für ein Lebewesen, mit geringfügigen Änderungen der Synthese eine neue Substanz hervorzubringen. „So entsteht im Laufe der Evolution ein gigantisches Mosaik aus leicht unterschiedlichen Syntheserouten und im Ergebnis eine große Vielfalt an Naturstoffen“, erläutert Pierre Stallforth.

Er leitet die Abteilung Paläobiotechnologie am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut – (Leibniz-HKI). Anhand von drei Naturstoff-Familien entwickelte Stallforths Team ein Modell der Evolution von Biosynthesewegen. Die von ihm neu entdeckte Substanz-Klasse der Virginiafactine ähnelt stark den bekannten Syringafactinen und den Cichofactinen. All diese Substanzen sind sogenannte Lipooctapeptide, die von Bakterien der Gattung Pseudomonas gebildet werden.

Hochkomplexe Enzyme, sogenannte „Nichtribosomale Peptidsynthetasen“, sind für die Bildung der von Stallforths Team untersuchten Moleküle verantwortlich. Sie sind modular aufgebaut. Die Forscher verglichen diese Synthese-Enzyme und die Anordnung ihrer Module systematisch: „Mittels chemischer Synthese, neuartigen Analysemethoden und der Bioinformatik war es unserer Forschungsgruppe möglich, den evolutionären Stammbaum für jeden Naturstoff zu rekonstruieren, der mit mithilfe der untersuchten Enzyme gebildet wird“, freut sich Stallforth. „Wir zeigen damit das breite Spektrum der Naturstoffe auf, die auf kleine Veränderungen in der Synthese zurückzuführen sind.“

Die Vielfalt der Naturstoffe

Überlebensfähigkeit und Durchsetzungskraft eines Organismus in der Natur – also dessen „evolutionärer Erfolg“ – hängen ganz wesentlich von seiner Ausstattung mit Naturstoffen ab. Sie sind es, die die meisten Wechselwirkungen mit anderen Organismen steuern. Eine hohe genetische Dynamik und Flexibilität führt dazu, dass fortwährend neue Naturstoffe entstehen. Deren Nutzen für den jeweiligen Organismus erweist sich in der Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten der Umwelt sowie mit anderen Organismen.

Chancen der Untersuchungen

Dem Menschen bieten sich damit zwei große Chancen: Zum einen ist die Vielfalt der in der Natur vorhandenen Moleküle schier unerschöpflich. Es kommt darauf an, diese Moleküle aufzuspüren und zu prüfen, ob sie auch für uns, beispielsweise als Wirkstoffe in Form von Antibiotika oder Krebsmedikamenten, nützlich sein können. „Zum anderen können wir mit dem Wissen zur Evolution von Synthesewegen gezielt Naturstoffe im Labor nachbilden“, führt Stallforth weiter aus. So ist es heute möglich, Biosynthese-Gencluster mit molekularbiologischen Methoden zu verändern und neu zu kombinieren. „Auf diese Weise können wir Naturstoffe praktisch am Reißbrett entwerfen, die anschließend Bakterien für uns bilden sollen“, ergänzt der Jenaer Biochemiker. Ein vielversprechender Weg vor allem dann, wenn sich die Moleküle aufgrund ihrer Komplexität nicht rein chemisch synthetisieren lassen.

Mit ihrer Pionierarbeit zur Evolution von Naturstoff-Biosynthesen haben Stallforth und seine Mitarbeiter die Tür zu dieser Wirkstoff-Schatzkammer einen Spalt weiter geöffnet. Die Untersuchungen wurden im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereiches ChemBioSys durchgeführt, in dem sich zahlreiche Wissenschaftler aus Jena mit der Funktion kleiner Moleküle in komplexen mikrobiellen Lebensgemeinschaften befassen. Neben der von Stallforth geleiteten Gruppe waren Kolleginnen und Kollegen aus zwei weiteren Nachwuchsgruppen sowie vom Biotechnikum des Leibniz-HKI beteiligt.

Originalpublikation

Götze S, Arp J, Lackner G, Zhang S, Kries H, Klapper M, García-Altares M, Willing K, Günther M, Stallforth P (2019) Structure Elucidation of the Syringafactin Lipopeptides Provides Insight in the Evolution of Nonribosomal Peptide Synthetases. Chem Sci 10, 10979-10990.

Das Leibniz-HKI

Das Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut – wurde 1992 gegründet und gehört seit 2003 zur Leibniz-Gemeinschaft. Die Wissenschaftler des Leibniz-HKI befassen sich mit der Infektionsbiologie human-pathogener Pilze. Sie untersuchen die molekularen Mechanismen der Krankheitsauslösung und die Wechselwirkung mit dem menschlichen Immunsystem. Neue Naturstoffe aus Mikroorganismen werden auf ihre biologische Aktivität untersucht und für mögliche Anwendungen als Wirkstoffe zielgerichtet modifiziert.

Das Leibniz-HKI verfügt über fünf wissenschaftliche Abteilungen, deren Leiter gleichzeitig berufene Professoren der Friedrich-Schiller-Universität Jena sind. Hinzu kommen mehrere Nachwuchsgruppen und Querschnittseinrichtungen mit einer integrativen Funktion für das Institut, darunter das anwendungsorientierte Biotechnikum als Schnittstelle zur Industrie. Gemeinsam mit der FSU betreibt das HKI die Jena Microbial Resource Collection, eine umfassende Sammlung von Mikroorganismen und Naturstoffen. Zurzeit arbeiten etwa 450 Personen am Leibniz-HKI, davon 150 als Doktoranden.

Das Leibniz-HKI ist Initiator und Kernpartner großer Verbundvorhaben wie dem Exzellenzcluster Balance of the Microverse, der Graduiertenschule Jena School for Microbial Communication, der Sonderforschungsbereiche FungiNet (Transregio) und ChemBioSys, des Zentrums für Innovationskompetenz Septomics sowie von InfectControl 2020, einem Konsortium im BMBF-Programm Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation. Das Leibniz-HKI ist zudem Nationales Referenzzentrum für invasive Pilzinfektionen.

Die Leibniz-Gemeinschaft

Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 96 selbständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften.

Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit.

Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen – in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Die Leibniz-Institute unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das Finanzvolumen liegt bei 1,9 Milliarden Euro.