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Die bislang vollständigste Landkarte des Krebserbguts veröffentlicht
Die große Hoffnung der Präzisionsonkologie ist es, Krebspatienten basierend auf der Analyse ihres Tumorerbguts wirksame Medikamente empfehlen zu können. Solchen Empfehlungen müssen sorgfältige vergleichende Analysen zugrunde liegen, die auf den Genomdaten tausender Patienten beruhen. Das ist das Ziel der „Pan-Cancer Analysis of Whole Genomes“ (PCAWG) Initiative: Mit dieser Metaanalyse aller Mutationen in mehr als 2600 Tumorgenomen von 38 verschiedenen Krebsarten wollen die rund 1300 beteiligten Forscher – auch vom Deutschen Krebsforschungszentrum – klären: Welche Mutationen oder Muster an Erbgutveränderungen fördern Krebsentstehung und Krebswachstum – über mehrere Tumorarten hinweg?
Seit 2008 erfassen und dokumentieren Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt im Rahmen der großen internationalen Forschungsverbünde des Internationalen Krebsgenom-Konsortiums (ICGC) und des „The Cancer Genome Atlas“ die charakteristischen Mutationen der 50 wichtigsten Krebsarten. Das Ziel dieses Mammutvorhabens war herauszufinden, welche Erbgutveränderungen bei den einzelnen untersuchten Krebsarten auftreten. Inzwischen liegt die Zahl der entzifferten Tumorgenome bei mehr als 22.000.
Mit dem 2014 gestarteten Folgeprojekt „Pan-Cancer Analysis of Whole Genomes“ (PCAWG) will ein internationales Team aus über 1300 Forschern nun die Frage beantworten, welche Genmutationen bzw. Muster an Veränderungen über mehrere Tumorarten hinweg eine Rolle spielen. Für diese Meta-Analyse unterzogen sie die Sequenzdaten von mehr als 2600 Tumorgenomen von 38 verschiedenen Krebsarten einer besonders sorgfältigen bioinformatischen Untersuchung und einem anschließenden Vergleich. Die ersten Ergebnisse der PCAWG-Arbeitsgruppen wurden nun zeitgleich in 23 Artikeln in „Nature“ und anderen Fachzeitschriften publiziert.
„Wenn Krebs entsteht, laufen mehrere Programme der Zelle gleichzeitig aus dem Ruder: Die Zellteilung wird angekurbelt, die Zellen müssen dem Zelltod Apoptose entgehen, Gewebegrenzen durchbrechen und das Immunsystem austricksen. Für all diese krebstypischen Eigenschaften bedient sich jeder individuelle Tumor aus einem ganzen Pool an krebstreibenden Erbgutveränderungen“, erklärt Genomforscher Peter Lichter vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) die komplexe Situation im Tumorerbgut. „Um die Entwicklung zielgerichteter Krebsmedikamente sinnvoll voranzutreiben, ist es wichtig, das Gesamtbild zu kennen und zu verstehen, wie sich bestimmte Mutationen einzeln oder auch in Kombination auswirken.“
Mit den Genomdaten von Hirntumoren bei Kindern und von Prostatakrebs bei jüngeren Männern hatten DKFZ-Forscher maßgeblich zum Internationalen Krebsgenomkonsortium ICGC beigetragen. In Deutschland zeichnete außerdem die Universität Kiel für die Analyse bösartiger Lymphome verantwortlich. Zusammengeführt wurden die Genomdaten aus allen drei deutschen ICGC-Projekten am DKFZ. Nun sind die Genomforscher und Bioinformatiker aus dem DKFZ, von denen einige zudem im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ) und am Deutschen Konsortium für translationale Krebsforschung (DKTK) tätig sind, in mehreren der 16 verschiedenen PCAWG-Arbeitsgruppen beteiligt.
Aufgabe der Arbeitsgruppen war es, die Mutationsereignisse unter verschiedenen Fragestellungen zu bewerten und zu klassifizieren: Welche Mutationen betreffen nicht-proteinkodierende Bereiche des Erbguts? Welche Spuren hinterlassen bestimmte mutagene Einflüsse oder infektiöse Erreger im Genom? Wie verläuft die Evolution der Tumoren? Welche Mutationen verleihen den Tumorzellen Unsterblichkeit? Welche Konsequenzen haben bestimmte Mutationen auf die Expression wichtiger Proteine?
„Die große Hoffnung der Präzisionsonkologie ist es, den Patienten künftig anhand der Analyse des Krebsgenoms ein passendes, wirksames Medikament empfehlen zu können. Doch angesichts der ungeheuren Komplexität der Mutationen, die wir insgesamt bei Tumoren finden, reicht für solche Empfehlungen ein kurzer Blick ins Erbgut nicht aus. Vielmehr benötigen wir eine komplexe Analyse, die auch auf dem Vergleich mit Genomdaten großer Patientengruppen beruht. Dies kann keine einzelne Forschungsinstitution leisten – hier brauchen wir die gebündelte Expertise internationaler Forschungsverbünde wie dem PCAWG-Konsortium“, erläutert Benedikt Brors, Bioinformatiker am DKFZ.
Die PCAWG-Forscher machen alle Genomdaten und Ergebnisse ihrer Analysen unter Einhaltung aller rechtlichen und ethischen Vorgaben über ein Datenportal weltweit zugänglich.
Viele der neuen Erkenntnisse tragen zum Verständnis der Genombiologie von Tumorzellen bei, einige der Ergebnisse werden sicherlich für die Präzisionsonkologie der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
So fanden die PCAWG-Forscher unter anderem
- …die Vermutung bestätigt, dass jedes Krebsgenom im Mittel zwischen 4 und 5 Treiber-Mutationen aufweist. Solche Treiber-Mutationen können den Weg zu vielversprechenden Zielstrukturen für neue Medikamente weisen. Teilweise sind Wirkstoff-Kombinationen sinnvoll, um gleichzeitig mehrere der krebstreibenden Zellveränderungen zu blockieren.
- …dass etwa 20 Prozent aller bei PCAWG gefundenen Treiber-Mutationen mit heute bereits vorhandenen zielgerichteten Medikamenten behandelt werden können. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass Wirkstoffe gegen weitere krebstreibende Veränderungen dringend benötigt werden. Mehrere solcher Substanzen sind bereits in der präklinischen oder klinischen Entwicklung.
- …dass bei etwa fünf Prozent der analysierten Krebsfälle keine tumortreibende Mutation im Erbgut auffindbar ist. Offenbar sind trotz des Umfangs der aktuellen Analyse noch nicht alle krebsfördernden Erbgutveränderungen bekannt. Weitere, wahrscheinlich sehr seltene Mutationen können auf noch nicht bekannte Weise die Krebsentstehung antreiben.
- …dass bestimmte, von den Eltern ererbte Mutationen (Keimbahn-Mutationen), die sich auf fundamentale zelluläre Prozesse wie etwa die DNA-Reparatur auswirken, Einfluss auf die Entstehung und Art weiterer Mutationen in den Zellen des Körpers und damit auf das Krebsrisiko haben. Ererbte Mutationen in krebstreibenden Genen fanden die PCAWG-Forscher in 17 Prozent aller untersuchten Fälle, in 4,5 Prozent der Fälle waren sogar beide Allele betroffen. Unter bestimmten Bedingungen könnte sich genetisches Screening auf häufige dieser vererbten Mutationen lohnen, um Personen zu identifizieren, die ein hohes Krebsrisiko haben.
- Auch Mutationen im nicht-proteinkodierenden Bereich des Erbguts können Krebs auslösen. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Veränderungen im sogenannten TERT-Promoter: Dieses genetische Kontrollelement entscheidet darüber, ob eine Zelle das Enzym Telomerase produziert, das ihr potenziell Unsterblichkeit verleiht. In 16 Prozent aller untersuchten Tumoren lagen Mutationen vor, die die Expression der Telomerase auf verschiedene Weise beeinflussen. Darüber hinaus fand das Konsortium allerdings nur wenige weitere Mutationen in nicht-proteinkodierenden Erbgut-Bereichen, die eindeutig mit der Krebsentstehung in Verbindung stehen.
Peter Campbell and the ICGC/TCGA Pan-Cancer Analysis of Whole Genomes Consortium: Pan-Cancer Analysis of Whole Genomes.
Nature 2020, https://doi.org/10.1038/s41586-020-1969-6
Zum PCAWG Datenportal: https://dcc.icgc.org/pcawg