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Krankheiten ohne Medikamente heilen

Fraunhofer-Forschende wollen mit Mikroimplantaten Nervenzellen gezielt elektrisch stimulieren und damit chronische Leiden wie Asthma, Diabetes oder Parkinson behandeln. Was diese Therapieform so besonders macht und welche Herausforderungen die Forscher noch lösen müssen.

Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts ist jede vierte Frau von Harninkontinenz betroffen. Diese Form der Blasenschwäche wurde bislang durch ein Beckenbodentraining, spezielle Schrittmacher, medikamentös oder sogar operativ behandelt. Mithilfe von Mikroimplantaten könnten solche mitunter langwierigen und aufwändigen Therapieformen entfallen. Der Clou: Die elektrische Stimulation hilft bestimmten Körperarealen dabei, ihre Funktion bei Bedarf durchzuführen.

Vasiliki Giagka, Gruppenleiterin am Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM, erklärt die Methode: „Elektronische Implantate können unterbrochene Signale auslösen, sie können unerwünschte Signale blockieren, sie können aber auch Signale zu anderen Stellen im Körper überbrücken. Bei Patienten, die die Fähigkeit verloren haben, ihre Blase zu kontrollieren, könnte ein bioelektronisches Implantat jederzeit das Blasenvolumen messen und eine Meldung senden, wann eine Person auf die Toilette gehen sollte. Darüber hinaus könnte es ungewolltes Entleeren der Blase durch Hochfrequenzstimulation des betreffenden Nervs stoppen.“

Damit dies möglich wird, arbeitet das Team um Giagka zusammen mit Forschenden der TU Delft an miniaturisierter, flexibler und vor allem langlebiger Elektronik. Solche Elektroniksysteme müssen einerseits über eine Sensoreinheit verfügen, die das Blasenvolumen erfasst und verarbeitet. Darüber hinaus müssen die Daten drahtlos aus dem Körper gesendet werden – eine Herausforderung, ist doch das menschliche Innenleben mit seinen Organen und Körperflüssigkeiten für das Senden von Funksignalen äußerst ungünstig. Und eine weitere wichtige Funktion muss drahtlos erfolgen: das Laden des Implantats durch Ultraschall. Dabei versetzen Ultraschallwellen winzige Schwingkörper im Implantat in Bewegung und verformen es. Diese elastische Verformung wird in Strom umgewandelt.

Außerdem können derartige Mikroimplantate durch Elektroden Nervenzellen ansteuern und durch elektrische Impulse physiologische Abläufe aktivieren. Diese flexiblen Elektroden sind mit bis zu 10 Mikrometer dünnen Mikrochips verbunden. Ziel ist es, hierdurch Feedback-Schleifen zwischen Nervenzellen und den Mikroimplantaten zu erzeugen und somit personalisierte und lokale Therapien für die Patienten zu entwickeln. Um an den neuronalen Schnittstellen Abstoßungsreaktionen des Körpers zu vermeiden, verwenden die Bioelektroniker um Giagka biokompatible Materialien wie Polymere, Edelmetalle und Silizium für die Elektronik.

Seit einiger Zeit verwendet die Forschung für solche Mikroimplantate den Begriff Elektrozeutika, weil statt pharmazeutischer Produkte miniaturisierte Elektronik zum Einsatz kommt: Strom statt Pillen. Mit diesem Ansatz könnten ganze Therapien neu entwickelt und unerwünschte Nebenwirkungen minimiert werden. Neben Inkontinenzleiden sind mehrere weit verbreitete chronische Krankheiten behandelbar. Voraussetzung ist, dass sich deren Wirkmechanismen durch Elektrostimulation gezielt beeinflussen lassen: Asthma, Diabetes, Parkinson, Migräne, Rheuma, Bluthochdruck – die Liste ist lang und das Forschungspotenzial enorm.

Bis die Elektrozeutika jedoch in größerem Maßstab Anwendung finden, müssen noch einige Hürden überwunden werden: „Noch können wir nicht vorhersagen, wann erste klinische Erprobungen möglich sein werden: Zurzeit entwickeln wir passende Testmodelle, die die Zuverlässigkeit der Implantate während des gesamten Prozesses prüfen werden und bis dahin miniaturisieren und optimieren wir die Stimulatoren weiterhin.“, so Vasso Giagka. Besonders die Langlebigkeit der Mikrostimulatoren stellt bislang eine Herausforderung dar. Immerhin sollen die Implantate mehrere Jahrzehnte im Körper zuverlässig funktionieren. Ziel der Miniaturisierung ist es, eine Gesamtgröße von weniger als einem Kubikzentimeter zu erreichen.

Ein besonderes Augenmerk legt das Team um Giagka deshalb darauf, die Lebensdauer der Implantate zu erhöhen. Dazu belasten sie in Zuverlässigkeitstests die Mikrosysteme mit elektromagnetischen Schwingungen, Feuchte sowie Temperatur und berechnen daraus zunächst die tatsächliche Lebensdauer.
Zusätzlich passen sie das Chipdesign so an, dass sich die elektromagnetischen Belastungen während des Betriebs reduzieren. Hierdurch wird die Lebensdauer der Implantate sowie die mögliche Dauer ihrer Messfähigkeit deutlich verlängert. Das Team peilt eine Gesamtlebensdauer von Jahrzehnten an.

Vasiliki Giagka, die am Fraunhofer IZM innerhalb des Förderprogramms „Fraunhofer Attract“ eine Arbeitsgruppe zu „Technologien der Bioelektronik“ aufgebaut hat und eine Assistenzprofessur an der TU Delft ausübt, hat sich mit Partnern in ganz Europa, den USA und im asiatischen Raum vernetzt, um Elektrostimulationstherapien durch Mikroimplantate in die medizinische Praxis umzusetzen. Für einen weiteren Aspekt, der sich wesentlich auf die Akzeptanz der Mikroimplantate auswirken wird – die Datensicherheit – kooperiert sie mit dem Fraunhofer-Leistungszentrum Digitale Vernetzung.

1 Vgl. https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/3191/26Herxag1MT4M_31.pdf?sequence=1…

Originalpublikation:

https://www.izm.fraunhofer.de/de/news_events/tech_news/krankheiten-ohne-medikame…