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Wie Telepräsenz-Roboter Menschen mit Demenz und deren Angehörige unterstützen können
Ein Team um Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Helma M. Bleses erforscht im Projekt RoboLand die Chancen und Risiken des Einsatzes solcher Systeme.
Ausgangspunkt ist, wie vulnerable pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen in ihrem Alltag unterstützt werden können. Wenngleich erste Hinweise zeigen, dass die Technik äußerst hilfreich empfunden werden kann, stellen sich Fragen nach möglichen negativen Wirkungen. Wo die Chancen und Risiken solcher Interventionen liegen, wollte auch der deutsche Ethikrat von der Forscherin wissen.
Kernfragen, besondere Herangehensweise der Wissenschaftler*innen und Relevanz für die Gesellschaft auf einen Blick:
- Inwieweit eröffnet der Einsatz von Telepräsenz-Robotern für zu Hause lebende Menschen mit Demenz neue Kommunikationsoptionen?
- Können solche Systeme einen Beitrag zum Erhalt der Selbstbestimmung, Mobilität und sozialer Teilhabe von Personen mit Demenz leisten? Können sie pflegende Angehörige unterstützen und zur Vernetzung der Gesundheits- und Pflegeversorgung beitragen?
- Inwiefern greift das System, das per Computer von den Angehörigen (fern-)gesteuert wird, in die Privatsphäre ein? Wie kann diese respektiert und geschützt werden?
- Der Telepräsenz-Roboter ist mobil und kann die Pflegebedürftigen in ihrer Wohnung begleiten. Dabei können sich Personen, die das System nutzen, hören und sehen. Das Forschungsteam wertet relevante Videoszenen aus dem Alltag mit dem Telepräsenz-Roboter aus und beobachtet die Interaktionen, ohne selbst zu intervenieren.
- Hochrechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigen, dass die Zahl der pflegebedürftigen Personen in Deutschland von aktuell 3,4 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 5,3 Millionen ansteigen wird. Dem stehen immer weniger Pflegekräfte gegenüber. Die Situation verschärft sich besonders auf dem Land.
Das Projekt RoboLand
Die Pflege Angehöriger aus der Ferne wird in Zukunft eine immer größere Rolle spielen, vor allem in ländlichen Gebieten. „Die Kinder ziehen weg zu ihren Arbeitsplätzen in weiter entfernte Städte. Die Eltern, die pflegebedürftig werden, sind daheim – und trotz aller gesetzlicher Neuregelungen – konfrontiert mit einer lückenhaften sozialen Versorgung“, erläutert die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Helma M. Bleses von der Hochschule Fulda.
Im Projekt RoboLand – „Telepräsenz-Robotik im häuslichen Lebens- und Pflegearrangement von Personen mit Demenz im ländlichen Raum“ – erforscht Prof. Bleses mit ihrem Team daher, welchen Beitrag Technik für zu Hause lebende Menschen mit Demenz leisten kann, um Selbstbestimmung, Mobilität und soziale Teilhabe zu ermöglichen, aber vor allem auch die Angehörigen zu unterstützen. Wissenschaftlicher Partner sind der Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Thomas Beer von der Hochschule St. Gallen und Prof. Dr. Erwin Praßler, Informatiker und Experte für autonome Systeme an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
Das technische System ist eine Art rollender Segway, auf dessen Lenkstange ein Tablet montiert ist. Das System namens „Double“ der Firma Double Robotics wird per Pfeiltasten auf einem PC oder per Smartphone von den Angehörigen gesteuert. So können beispielsweise Kinder aus der Ferne ihre Eltern durch die Wohnung begleiten. Fünf Familien in zwei ländlichen Regionen in Hessen – im Vogelsbergkreis und in der Stadt Trendelburg im Landkreis Kassel – sind eingebunden und werden über dreieinhalb Jahre begleitet. Das Projekt RoboLand wurde im vergangenen Jahr vom GKV-Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen als Anwendungsbeispiel für eine Fallstudie ausgewählt.
Die Forschungsmethode
Das Forschungsteam wertet Videos aus dem Alltag mit dem Telepräsenz-Roboter aus und beobachtet die Interaktionen, ohne selbst zu intervenieren. Es handelt sich um eine qualitative Langzeitstudie. Datengrundlagen sind Beobachtungen, Protokolle, videografische Aufzeichnungen von Situationen. Flankierend wurden dazu Interviews mit Angehörigen, den Personen mit Demenz – soweit deren Situation dies zuließ – sowie mit Pflegekräften geführt.
Die zentralen Fragen: Wie wirken sich die Kommunikation und Intervention durch Telepräsenz-Roboter auf Personen mit Demenz, deren pflegende Angehörige sowie professionell Pflegende aus? Sind Telepräsenz-Roboter geeignet, Krisensituationen im Pflegealltag zu reduzieren bzw. zu vermeiden? Trägt dies zu einem Sicherheitsempfinden bei den Personen mit Demenz und deren betreuendem Umfeld bei? Und welche ethischen Fragestellungen ergeben sich?
Potenzial zur Freude und Aktivität
„Die ersten Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der Einsatz von Telepräsenz-Robotik sowohl von Personen mit Demenz wie auch den Angehörigen als überaus unterstützend empfunden werden kann“, betont Prof. Bleses. So gingen die Projekt-Teilnehmenden äußerst innovativ mit dem System um: Sie wählten Mittagessen und Kleidung zusammen aus, tranken miteinander Kaffee, nahmen eine gemeinsame Mahlzeit ein oder leisteten sich einfach nur Gesellschaft.
Der Telepräsenz-Roboter bietet den Personen mit Demenz Potenzial zur Freude, Aktivität und Kommunikation und ermögliche sogar die (Wieder-)Entwicklung von Kompetenzen, beobachtete das Forschungsteam. „Eine der Personen mit Demenz fand sich zum Beispiel plötzlich in einer Situation wieder, in der sie die technischen Defizite des Systems und die Unsicherheit der Angehörigen beim Versuch, den Roboter in seine Landestation zu navigieren, durch gezielte Hinweise und Kommandos kompensierte“, erläutert Prof. Bleses.
Erhöhte emotionale Belastung
Bei den Angehörigen beobachteten die Forscherinnen und Forscher neben Freude und Sicherheitsempfinden eine erhöhte emotionale Belastung, weil deutlich wurde, dass sich der Zustand der Mutter oder des Vaters verschlechtert hatte. „Solche Entwicklungen müssen wir mitdenken und im Blick behalten, um zu verhindern, dass die Angehörigen durch den Einsatz von Technik noch zusätzlich belastet werden“, betont Prof. Bleses. Andererseits sei den Angehörigen aber auch klargeworden, wo es mehr Unterstützung für die Person und ein größeres Netzwerk an Helfern brauche.
Darüber hinaus registrierte das Projektteam Hinweise darauf, dass sich bei den Angehörigen ein Gefühl einstellt, tatsächlich vor Ort gewesen zu sein. Um analysieren zu können, welche Formen von Präsenzgefühl solche Systeme bei wem und unter welchen Bedingungen evozieren, sieht das Projekt weiteren Forschungsbedarf.
Vernetzung mit professionell Helfenden
Das Telepräsenz-System kann helfen, mit Pflegedienst oder Ärzten zu kommunizieren. „Wir sehen hier für Angehörige eine gute Möglichkeit, sich durch technische Systeme mit den professionellen Helfern zu vernetzen, ohne vor Ort sein zu müssen. Gerade das kann für erwerbstätige pflegende Angehörige eine große Unterstützung sein“, sagt Prof. Bleses. Auch ließe sich zum Beispiel via Bildschirm klären, ob ein Verbandswechsel sofort erfolgen muss oder auf der nächsten Tour des ambulanten Pflegedienstes eingeplant werden kann. „Es ging und geht bei dem Projekt aber auf keinen Fall darum, professionelle Pflegepersonen durch Technik zu ersetzen, sondern vielmehr darum, nach Potenzial zu suchen, mit dem die Pflege unterstützt werden kann“, betont die Pflegewissenschaftlerin.
Mehr gemeinsame Zeit, keine Zeitersparnis
Die Fallbeispiele zeigen auch, dass Telepräsenzsysteme keine Zeitersparnis bringen. Im Gegenteil. Kaum ein Kontakt dauerte unter 30 Minuten. Bis zu drei Stunden am Tag verbrachten etwa drei Töchter mit der Mutter, ohne auf ihre Besuche am Wochenende zu verzichten. „Insgesamt erweitern Telepräsenzsysteme die Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens“, resümiert Prof. Bleses.
Viele ethische Fragen
Um ungewollte Eingriffe in die Privatsphäre zu verhindern, kündigten im Projekt RoboLand die Angehörigen ihren Besuch vorher telefonisch an. Dies vor dem Hintergrund, dass sich im Forschungsprojekt zahlreiche ethische Fragen stellen: Da die robotischen Systeme alltagsnah im privaten, geschützten Raum eingesetzt werden, greifen sie entscheidend in die Lebenswelt einer Person mit Demenz ein. Stimmt diese dem Einsatz zu? Kann sie überhaupt abschätzen, welche Implikationen dies für ihre Privatsphäre und den Datenschutz hat? Kann sie Überwachungsfunktion auf der einen und Kommunikationsoptionen auf der anderen Seite gegeneinander abwägen? Das Projektteam beobachtete etwa, dass Angehörige das System einsetzten, um zu prüfen, ob die pflegebedürftige Person das Notrufarmband trägt oder ausreichend getrunken hat über den Tag. „Diesen Eingriff in die Privatsphäre reflektieren wir von Beginn an und im Verlauf des Projektes immer wieder neu unter ethischen Gesichtspunkten mit der Frage, ob er Schaden erzeugt oder ihn doch verhindert“, betont Prof. Bleses.
„Mit welchen Wirkungen und Auswirkungen der Technik zu rechnen ist und welche ethischen Implikationen die Mensch-Maschine-Interaktion unter Einbindung von Personen mit Demenz hat, können wir noch nicht abschließend beurteilen. Viele ethische Fragen sind noch offen und ergeben sich immer wieder neu“, unterstreicht Prof. Bleses, die ihre Expertise auch auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrats 2019 zur Verfügung stellte.
Grenzen durch Infrastruktur
Als problematisch aus technischer Sicht haben sich das häufige Fehlen eines ausreichenden und stabilen Internet-Anschlusses in ländlichen Gebieten, ein fehlender technischer Support, Computerabstürze, Störungen und Ausfälle erwiesen. „Die Infrastruktur und Technik sind noch nicht so ausgereift, dass ein routinemäßiger Einsatz ohne weiteres möglich erscheint“, meint Prof. Bleses.
Steckbrief Projekt RoboLand
Vollständiger Titel: Telepräsenz-Roboter im häuslichen Lebens- und Pflegearrangement von Personen mit Demenz im ländlichen Raum: Entwicklung und Erprobung von pflegewissenschaftlichen Konzepten für eine verbesserte Betreuung und Unterstützung für Personen mit Demenz
Laufzeit: 01.12.2016 – 31.07.2020
Drittmittel: Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung finanziert. Gefördert vom BMBF im Rahmen der Ausschreibung SILQUA-FH Förderkennzeichen: 13FH008SA6 (HFD) / 13FH006SA3 (HS-BRS)
Weiterführende Quellen
Im Podcast der Hochschule Fulda berichtet Prof. Dr. Helma M. Bleses u.a. ausführlich über ein Fallbeispiel aus RoboLand.
Originalpublikationen
Dammert, M., Ziegler, S., Beer, T., Bleses, H. M. (2020): Zur Erkundung der Mensch-Maschine-Interaktion im Einsatz von Telepräsenzrobotik bei Personen mit Demenz. Aspekte des Feldeinstiegs. In: Hergesell, J./ Maibaum, A./ Meister, M. (Hrsg): Genese und Folgen der Pflegerobotik – Die Konstitution eines interdisziplinären Forschungsfeldes, S. 253-275.Weinheim 2020: Belz Juventa
Bleses, H. M. & Dammert, M. (2019) Neue Technologien aus Sicht der Pflegewissenschaft. In: H. Hanika (Hrsg.), Künstliche Intelligenz, Robotik und autonome Systeme in der Gesundheitsversorgung (Schriften zu Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, Tagungsband).
Ziegler, S., Dammert, M. & Bleses, H. M. (2018). Telepräsenzroboter in der Häuslichkeit von Personen mit Demenz im ländlichen Raum. In: S. Boll, A. Hein, W. Heuten & K. Wolf-Ostermann (Hrsg.), Zukunft der Pflege – Innovative Technologien für die Pflege. Tagungsband der 1. Clusterkonferenz 2018 (S. 168–173). Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg