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Kosten der Coronakrise: Studie über die sozioökonomischen Folgen von „social distancing“
Die Entscheidung der Politik darüber, wann das „social distancing“ zu lockern ist, sollte nicht allein von den tagesaktuellen Fallzahlen abhängen. Eine gemeinsame Studie von theoretischer Physik, Ökonomie und Medizin an Goethe-Universität, Univesity of California, Berkeley, und dem Vivantes Klinikum Berlin zeigt, dass dringend auch andere Kriterien einbezogen werden sollten.
Die Politik sollte auf die Gesamtsituation achten, und nicht nur auf die täglich neu gemeldeten Fallzahlen. Bei vorzeitiger Lockerung der Maßnahmen würde die Epidemie sich stärker auswirken, und die Gesamtkosten würden substantiell steigen, so die Autoren der neuen Studie, die wegen der hohen Brisanz vorab online veröffentlicht wurde. Optimal wäre es demnach, das strenge „social distancing“ mindestens so lange beizubehalten, bis die Fallzahlen im Verhältnis zu den Test-Kapazitäten so weit gesunken sind, dass eine flächendeckende Nachverfolgung der Einzelfälle möglich würde.
Für den weiteren Umgang mit der aktuellen COVID-19-Pandemie sind wissenschaftlich basierte Abschätzungen der Folgekosten für unterschiedliche Bewältigungsstrategien von fundamentaler Bedeutung. Dafür ist eine Kombination von numerischen Simulationen und volkswirtschaftlichen Kostenrechnungen notwendig, wie Prof. Dr. Claudius Gros und Prof. Dr. Roser Valenti vom Institut für Theoretische Physik der Goethe-Universität in einer Publikation zusammen mit Dr. Daniel Gros (Visiting Professor UC Berkeley/Direktor CEPS Brüssel) und Kilian Valenti (Vivantes Klinikum Berlin) ausarbeiten. Die Forscher fanden heraus, dass eine Politik, die auf den laufenden Zuwachs an Fallzahlen reagiert, zu höheren Gesamtkosten führt als eine Politik, die sich an der Gesamtzahl aller vergangenen Fälle orientiert und auch andere Faktoren einbezieht.
Die COVID-19-Epidemie wirkt sich in nie gekanntem Ausmaß auf Gesellschaft und Wirtschaft aus, die in weiten Teilen „heruntergefahren wurden“: Die Schulen sind geschlossen, nur noch in bestimmten Branchen dürfen Geschäfte geöffnet sein, und die Menschen sollen nach Möglichkeit zu Hause bleiben. Epidemiologische Modelle müssen die Rückkopplung dieses „social distancing“ und anderer Reaktionen auf die Ausbreitungsdynamik des Virus berücksichtigen. In der Arbeit, die heute als Vorabveröffentlichung vorgestellt wurde, führen die Autoren ein neues epidemiologisches Modell ein, welches das klassische SIR („susceptible“, „infected“, „recovered“)-Modell um einen Rückkopplungsparameter erweitert. Das neue Modell erlaubt es, zwei unterschiedliche Strategien zu untersuchen, je nachdem, ob die politischen Akteure ihr Augenmerk auf die tagtäglichen Fallzahlen richten („short-sighted“) oder ob den Entscheidungen die Gesamtentwicklung der Epidemie zugrunde gelegt wird („history-aware“). Die Autoren legen dar, dass nur die zweite Strategie das Potenzial hat, die Epidemie umfassend einzudämmen. Die geltenden Ausgangsbeschränkungen sollten nicht einfach aufgrund sinkender Fallzahlen allein gelockert werden, es sei denn, es wäre möglich, diese durch alternative Maßnahmen mit vergleichbarem Eindämmungspotenzial zu ersetzen.
Ein in der Öffentlichkeit weit verbreiteter Begriff ist der der Herdenimmunität („herd immunity“), d.h. der Punkt, an dem die Zahl der Neuinfektionen nicht weiter steigt. Dieser wird für COVID-19 nach vielen Schätzungen dann erreicht, wenn 66 Prozent der Bevölkerung infiziert worden sind. Häufig wird davon ausgegangen, dass die Epidemie an diesem Punkt im Wesentlichen besiegt sei. Die Autoren dieser Studie weisen jedoch darauf hin, dass nach der Herdenimmunität zwar die Zahl der täglich neu Infizierten sinke, aber die Gesamtzahl der Fälle weiter steige und sich weitere 28 Prozent der Bevölkerung infizierten. Lediglich sechs Prozent würden von einer Ansteckung verschont bleiben.
Die gesamtwirtschaftlichen Kosten setzten sich aus vier Komponenten zusammen: Arbeitszeitausfall, medizinische Kosten, „value of life“ (hier fließt die nicht mehr stattfindende erwartete Restlebenszeit als Verlust mit ein) und „social-distancing“-Kosten (also die volkswirtschaftlichen Einbußen durch die eingeschränkte Wirtschaftstätigkeit). Lasse man der Epidemie freien Lauf, ergäben sich – ganz abgesehen von der ethischen Problematik – insgesamt Kosten von zirka 1,1 Billionen Euro, was 30 Prozent des deutschen Bruttoinlandproduktes (BIP) entspricht. Würde man den ökonomischen Wert des Lebens außen vorlassen, beliefen sich die Kosten einer ungebremsten Epidemie immer noch auf 14 Prozent des BIPS, also rund 480 Milliarden Euro. Strenge Maßnahmen drücken diesen Wert auf die Hälfte. Dafür müssen aber die sozialen Kosten der „social distancing“-Maßnahmen in Kauf genommen werden.
Falls nur reale Kosten berücksichtigt werden und der ökonomische Wert des menschlichen Lebens ausgeklammert bliebe, schneiden mittlere Strategien dieser Publikation zufolge am schlechtesten ab. Der Mittelweg ist im Fall einer globalen Pandemie deshalb nicht der goldene. Auf der Grundlage ihrer Berechnungen plädieren die Autoren dafür, die strengen Maßnahmen so lange aufrecht zu erhalten, bis die Anzahl der Neuerkrankungen so stark gesunken ist, dass jeweils das komplette Umfeld durchgetestet werden kann. Hierfür sind aber erhebliche Steigerungen bei den Testkapazitäten notwendig.
Publikation: Claudius Gros, Roser Valenti, Kilian Valenti, Daniel Gros, Strategies for controlling the medical and socio-economic costs of the Corona pandemic (2020); zur Vorabveröffentlichung.
Zur Publikation des Clausen Center for International Business and Policy / Berkeley.