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Die Effekte der Einschnitte
Eine Simulation belegt die Wirkung der ersten Maßnahmen gegen Covid-19 und ermöglicht eine Prognose für die Ausbreitung von Sars-CoV-2
Die Anstrengungen gegen die Corona-Epidemie in Deutschland zeigen erste Wirkung. Zumindest die Maßnahmen, die bis zum 16. März ergriffen wurden, haben die Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 verlangsamt. Das belegt die Modellrechnung eines Teams vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und von der Universität Göttingen. Die Simulation zeigt allerdings auch, dass die Maßnahmen bis zum 16. März das exponentielle Wachstum noch nicht ausreichend bremsen oder die neuen Fallzahlen gar langfristig senken können, um eine Überlastung des Gesundheitssystems durch Covid-19 zu verhindern. Ob das mit der weitgehenden Kontaktsperre gelingt, die seit dem 22. März gilt, wird die ständig angepasste Rechnung erst ab dem 8. April zeigen.
So ausschlaggebend waren Zahlen kaum jemals zuvor für politische Entscheidungen, für die wirtschaftliche Entwicklung und das gesellschaftliche Leben: Wie es in Deutschland und fast überall auf der Welt in den kommenden Monaten weitergehen wird, dürfte vor allem von der Ausbreitungsrate des Coronavirus Sars-CoV-2 und der damit verbundenen Veränderung in der Zahl der Neuinfektionen abhängen. Denn nur wenn es täglich nicht immer mehr Krankheitsfälle gibt, bleibt die optimale medizinische Versorgung von Schwerkranken möglich.
Um die Ausbreitung des Corona-Virus komplett einzudämmen, haben die Schließungen von Kindergärten und Schulen, von vielen Geschäften und öffentlichen Einrichtungen, die in Deutschland um den 16. März in Kraft traten, jedoch nicht ausgereicht. Das zeigt die Berechnung eines Teams um Viola Priesemann, die am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation eine Forschungsgruppe leitet.
Bislang starke Ausbreitung trotz der Einschnitte vom 8. und 16. März
Sie hat sich schon Mitte März mit Datenwissenschaftlern der Universität Göttingen zusammengetan, um den Verlauf der Corona-Epidemie in Deutschland zu simulieren. Auf diese Weise wollten die Forschenden helfen, die Effekte der Maßnahmen abzuschätzen und den weiteren Verlauf vorherzusagen. Und das ist ihnen auch gelungen. Denn wie ihre Modellrechnung zeigt, verringerten bereits die ersten Beschränkungen im öffentlichen Leben um den 8. März, durch die etwa Fußballspiele ohne Fans stattfanden, die effektive Ausbreitungsrate. Diese Zahl entspricht der täglichen Wachstumsrate an neu infizierten Personen. Sie bestimmt, wie hoch die Fallzahlen ein bis zwei Wochen später liegen werden, nachdem die Testergebnisse der Erkrankten vorliegen. Das Modell bezieht auch ein, dass genesene Personen erst einmal immun sind und nicht mehr zur Ausbreitung der Infektion beitragen können. Um den 8. März sank die effektive Ausbreitungsrate zwar schon deutlich, aber noch nicht auf oder unter Null, sodass die gefürchtete exponentielle Ausbreitung des Corona-Virus damit noch nicht gebrochen wurde.
Gleiches gilt auch für die Einschnitte um den 16. März. Der Simulation des Göttinger Teams zufolge hätten alleine diese Maßnahmen zwar ausgereicht, um die Zahl der Neuinfektionen vorübergehend zu senken. Wenige Tage später wäre sie aber wieder angestiegen. „Das ist ganz typisch für eine plötzliche Änderung der Ausbreitungsrate“, sagt Michael Wilczek, Co-Autor der Studie. Aus einem kurzzeitigen Rückgang lasse sich nicht unbedingt ablesen, dass die Wachstumsrate sich umgekehrt hätte. Ob die strikte Kontaktsperre, die seit dem 22. März neben dem öffentlichen Leben auch private persönliche Kontakte in Deutschland weitgehend unterbindet, die tägliche Zunahme der Neuinfektionen zumindest für die Dauer der Auflage verhindert, ist noch unklar. Die Simulation legt das zwar nahe. „Wir wissen aber nicht, ob unsere Annahmen, wie weit die Maßnahmen die effektive Ausbreitungsrate senken, zutreffen“, sagt Viola Priesemann.
Noch zwei bis drei Wochen Isolation könnten die Neuinfektionen deutlich senken
Wenn das Göttinger Team auch die Effekte der Kontaktsperre richtig eingeschätzt hat, wird die Vorhersage ihres Modells für die kommenden Wochen ebenfalls zutreffen: Dann wird die Zahl der Neuinfektionen kontinuierlich abnehmen – zumindest wenn das Leben in Deutschland weiterhin auf Notbetrieb läuft. Dabei lässt sich eine so naheliegende wie ernüchternde Einsicht auch aus der Göttinger Modellrechnung ableiten: „Wenn die Beschränkungen aufgehoben werden, können wir wieder in ein exponentielles Wachstum laufen“, sagt Viola Priesemann. „Wir sehen ganz klar: Die Fallzahlen in zwei Wochen hängen von unserem Verhalten jetzt ab.“
Aus ihrer Simulation können die Forschenden auch ein hoffnungsvolles Szenario ableiten: Wenn wir die Isolation in den kommenden zwei bis drei Wochen weiter sehr sorgfältig einhalten, könnte es nur ein Dutzend oder einige Hundert neue Fälle pro Tag geben. Mit so wenigen Neuinfektionen könnten die Kontakte von jedem Erkrankten weitgehend identifiziert und isoliert werden. „Ich finde es sehr ermutigend, dass wir mit einer starken Einschränkung in den kommenden zwei bis drei Wochen die Neuinfektionen soweit zurückdrängen könnten, dass wir danach mit Vorsicht, aber hoffentlich mit deutlicher weniger Einschränkungen weitermachen können“, sagt Viola Priesemann. „Wir warten jeden Tag auf die neuen Zahlen zur Wirkung der Kontaktsperre und zur Wirkung von unserem Verhalten.“
Die Vorhersagen werden ständig kontrolliert
Um die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie möglichst effektiv zu gestalten, wäre es für die politischen Entscheidungsträger natürlich hilfreich, wenn sie die Wirkung einzelner Beschränkungen kennen würden. Wenn sie also wüssten, ob etwa die Schließung der Schulen und Kindergärten, die Beschränkung im Handel oder das Verbot von privaten Begegnungen die Epidemie besonders effektiv einhegt. Das kann aber auch die Göttinger Modellrechnung nicht klären. „Es ist schon schwierig genug, die Effekte der Maßnahmenpakete einzuschätzen, ganz zu schweigen von den einzelnen Maßnahmen“, sagt Viola Priesemann. Und während die tatsächliche Entwicklung der Ansteckungszahlen mit etwas Verzögerung zeigt, ob ihr Team mit den entsprechenden Annahmen richtig lag, ist ein solcher Realitätscheck für die geschätzten Effekte einzelner Regeln bisher nicht möglich.
Ungeachtet dessen kontrollieren die Forscherinnen und Forscher um Viola Priesemann die Vorhersagen ihres Modells ständig: „Mein Team hat in den letzten Wochen rund um die Uhr daran gearbeitet, um das Modell zu entwickeln. Jetzt können wir jeden Tag einen neuen Datenpunkt hineinfügen und sehen, wie sich die Prognosen verändern“, sagt sie. „Wir haben ein paar sehr anstrengende Wochen hinter uns, aber es freut uns sehr, dass wir mit unserer Forschungsarbeit etwas beitragen können, die Ausbreitung und Eindämmung der Corona-Epidemie in Deutschland zu verstehen.“
Originalveröffentlichung
Jonas Dehning, Johannes Zierenberg, F. Paul Spitzner, Michael Wibral, Joao Pinheiro Neto, Michael Wilczek, Viola Priesemann
Inferring COVID-19 spreading rates and potential change pointsfor case number forecasts
arXiv; 2. April 2020
Source