Das GesundheitsPortal für innovative Arzneimittel, neue Therapien und neue Heilungschancen
Stammzellen im Darm: Neue Erkenntnisse könnten Weg für die Behandlung zahlreicher Krankheiten ebnen
Der Darm ist einer der wichtigsten Akteure im menschlichen Stoffwechsel. Zahlreiche Volkskrankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes, Kolitis und Darmkrebs stehen mit einer gestörten Funktion des Darms in Verbindung. Forschende verfolgen deshalb den Ansatz, Dysfunktionen des Darms beispielsweise durch die Bildung spezifischer Darmzellen aus Stammzellen entgegenzuwirken. Für Krankheiten wie Diabetes könnte dies eine vielversprechende regenerative Therapie sein. Dafür benötigt die Wissenschaft jedoch ein tiefes Verständnis darüber, wie sich Stammzellen im Darm weiterentwickeln, welche Zellhierarchien vorherrschen und welche Signale die Formierung bestimmter Zelltypen regulieren – eine Aufgabe für die Grundlagenforschung.
Heiko Lickert und seine Forschungsgruppe haben sich dieser Herausforderung gestellt. Lickert ist Direktor des Instituts für Diabetes- und Regenerationsforschung am Helmholtz Zentrum München, Professor für Betazellbiologie an der Technischen Universität München (TUM) und Mitglied des Deutschen Zentrum für Diabetesforschung (DZD). Im Folgenden sprechen er und Erstautorin Anika Böttcher über ihre neueste Forschungsarbeit zu den grundlegenden Mechanismen der Funktionsweise von Darmstammzellen, die in Nature Cell Biology veröffentlicht wurde.
Warum ist gerade der Darm so wichtig für die Gesundheitsforschung?
Heiko Lickert: Der Darm ist zugleich das Verdauungssystem als auch das größte Hormonsystem im Menschen. Er ist für die Regulierung des Energiehaushaltes und des Blutzuckerspiegels verantwortlich. Die Funktionen des Darms führen spezialisierte Zellen aus. Diese bilden sich aus Darmstammzellen und erneuern sich alle drei bis vier Tage im Menschen. Sogenannte enteroendokrine Zellen produzieren mehr als 20 verschiedene Hormontypen, die Signale an das Gehirn und die Bauchspeicheldrüse senden, um zum Beispiel den Appetit, die Nahrungsaufnahme, die Entleerung des Magens und die Insulinausschüttung von den Betazellen der Bauchspeicheldrüse zu regulieren. Eine weitere wichtige Funktion wird von sogenannten Paneth-Zellen ausgeführt, die antimikrobielle Stoffe erzeugen und so Krankheitserreger abwehren. Es überrascht daher nicht, dass eine Dysfunktion des Darms mit vielen verschiedenen Krankheiten, die Millionen Menschen weltweit betreffen, in Verbindung steht – von chronischen Entzündungen und Darmkrebs bis hin zu Diabetes.
Was waren die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer jüngsten Forschung an Darmstammzellen?
Anika Böttcher: Wir haben jetzt ein besseres Verständnis darüber, wie genau sich Darmstammzellen kontinuierlich erneuern und spezialisierte Zelltypen ausbilden. Wir haben das mit einer noch nie dagewesenen Auflösung auf Einzelzellebene beobachtet. So sind wir nun in der Lage, für jede Darmzelle potenzielle Vorläuferpopulationen zu bestimmen. Wir konnten zeigen, dass Darmstammzellen für jede Abstammungslinie unipotente Vorläuferzellen bilden. Darüber hinaus – und das ist besonders wichtig – haben wir einen neuen Signalweg der Stammzellnische des Darms identifiziert (im Fachjargon: Wnt/planar cell polarity pathway). Dieser reguliert die Selbsterneuerung von Darmstammzellen und deren Entwicklungsentscheidungen. Diese Entdeckung ist deshalb so wichtig, da wir wissen, dass sich Darmstammzellen unbegrenzt erneuern können und damit die Darmfunktion und die Gewebebarriere aufrechterhalten. Wir sprechen hier von 6 Metern Epithelgewebe und mehr als 100 Millionen Zellen, die jeden Tag im Menschen neu entstehen! Außerdem können sich diese Zellen in jeden Zelltyp ausbilden. Das Risiko, dass ein Fehler in dem Selbsterneuerungs- oder Zelldifferenzierungsprozess zu einer chronischen Erkrankung führt, ist daher recht hoch.
Um es etwas technischer auszudrücken: Wir haben es geschafft, einen detaillierten Stammbaum (engl. lineage tree) für alle Zelltypen des Darms zu beschreiben und haben einen neuen Signalweg identifiziert, der die Entwicklungsentscheidungen der Stammzellen reguliert. Für diesen Durchbruch haben wir verschiedene Reportermauslinien genutzt, die seltene Darmzelltypen markieren und eine Zeitauflösung der Differenzierungsprozesse ermöglichen, mit genomweiten und gezielten Einzelzell-Genexpressionsanalysen kombiniert. So konnten wir die Entwicklungsentscheidungen von Stammzellen im Darm entschlüsseln. Zusammen mit Fabian Theis und seiner Gruppe am Institut für Computational Biology am Helmholtz München und der TUM haben wir 60.000 Darmzellen charakterisiert. Um diesen Datensatz zu analysieren, setzten wir neu entwickelte Techniken des maschinellen Lernens ein und konnten damit automatisiert Verzweigungslinien und Schlüsselfaktoren im Bereich der Genexpression identifizieren. Unsere Erkenntnisse sind für viele Krankheitsbilder anwendbar: Krebs, Entzündungen und Kolitis ebenso wie für Fettleibigkeit und Diabetes.
Wie schafft es dieses neue Wissen nun in die Anwendung?
Heiko Lickert: Unsere Studie stellt bisherige Paradigmen in Frage, indem wir unser Wissen über die Selbsterneuerung von Darmstammzellen, ihre Heterogenität und die Bildung der verschiedenen Zelltypen des Darms aus Stammzellen erweitert haben. Dieses neue Grundlagenwissen können wir nutzen, um besser zu verstehen, wie sich die Selbsterneuerung und Differenzierung von Darmstammzellen bei chronischen Erkrankungen verändert. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse könnten uns wiederum dabei helfen, gezielte Therapien für diese Krankheiten zu entwickeln. So könnten wir Wege finden, um die Vorläufer der Zelltypen im Darm gezielt anzusprechen – zum Beispiel um die Formierung spezifischer Zellen wiederherzustellen, die aufgrund von Krankheit gestört wurde, oder um Darmkrebsstammzellen zu identifizieren und gezielt auszuschalten. Bei uns am Institut werden wir die neuen Erkenntnisse für die Diabetesforschung nutzen.
Originalpublikation:
Böttcher et al., 2021: Non-canonical Wnt/PCP signalling regulates intestinal stem cell lineage priming towards enteroendocrine and Paneth cell fates. Nature Cell Biology, DOI: 10.1038/s41556-020-00617-2