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COVID-19 hat viele Gesichter
Bonner Fachleute präsentieren in „Genome Medicine“ neueste Erkenntnisse zum Coronavirus
Die vom Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Erkrankung COVID-19 umfasst nach aktuellen Untersuchungen mindestens fünf verschiedene Varianten. Diese unterscheiden sich darin, wie das Immunsystem auf die Infektion reagiert. Forschende des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Universität Bonn präsentieren diese Befunde gemeinsam mit weiteren Fachleuten aus Deutschland, Griechenland und den Niederlanden im Wissenschaftsjournal „Genome Medicine“. Die Studienergebnisse könnten zu einer effektiveren Behandlung beitragen.
Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann sich auf unterschiedliche Weise auswirken: Viele Betroffene scheinen den Virusbefall gar nicht zu bemerken. In anderen Fällen können die Auswirkungen grippeähnliche Symptome und neurologische Störungen bis hin zu einer schweren und sogar lebensbedrohlichen Lungenentzündung umfassen. „Die Einteilung von COVID-19 in milde und schwere Verläufe greift zu kurz. Die Erkrankung ist wesentlich vielfältiger und für jeden Betroffenen wünscht man sich natürlich eine Therapie, die passgenau zugeschnitten ist. Was dem einen hilft, ist bei einem anderem möglicherweise wirkungslos“, sagt Dr. Anna Aschenbrenner, eine Wissenschaftlerin am LIMES-Institut der Universität Bonn, die auch dem Bereich Systemmedizin des DZNE angehört. „Insofern ist es naheliegend, verstehen zu wollen, was diesen Unterschieden zugrunde liegt. Kann man sie an wissenschaftlichen Kriterien festmachen und Betroffene dementsprechend zuordnen, so erhöht das die Chancen für eine effektive Behandlung. Wir haben uns deshalb das Immunsystem angeschaut. Denn viele Studien weisen mittlerweile darauf hin, dass dessen Reaktion auf die Infektion mit SARS-CoV-2 eine entscheidende Rolle für den Krankheitsverlauf von COVID-19 spielt“, so Aschenbrenner, die Mitglied im Exzellenzcluster „ImmunoSensation“ der Universität Bonn ist.
Internationale Kooperation
Vor diesem Hintergrund analysierte ein Team um Anna Aschenbrenner gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland das Blut von Menschen mit und ohne COVID-19. Die Proben stammten von insgesamt 95 Personen, die sich auf Bonn, Athen und Nimwegen verteilten. Die Untersuchungen erfolgten in Zusammenarbeit mit der „Deutschen COVID-19 OMICS Initiative“ (DeCOI) – einem bundesweiten Verbund von Universitäten und Forschungseinrichtungen. In Bonn waren neben dem DZNE und der Universität Bonn auch das Universitätsklinikum beteiligt. Partner im Ausland waren das Attikon Universitätsklinikum sowie das Sotiria Krankenhaus in Athen und das Radboud University Medical Center im holländischen Nimwegen.
Für jede Patientin beziehungsweise jeden Patienten wurde das sogenannte Transkriptom der Immunzellen im Blut bestimmt und dazu enorme Datenmengen mit Methoden der Bioinformatik ausgewertet. Anhand des so generierten molekularen Fingerabdrucks konnten die Forschenden erkennen, welche Gene innerhalb der Immunzellen ein- beziehungsweise ausgeschaltet waren. Derlei Signaturen der Genaktivität – auch „Expressionsmuster“ genannt – geben Auskunft über den Zustand von Zellen und damit über deren Eigenschaften und Funktionen, die sich situationsbedingt ändern können.
Interessanterweise war das so gewonnene Blutbild maßgeblich durch die Familie der „Neutrophilen“ bestimmt: Sie sind die häufigsten der sogenannten weißen Blutkörperchen und stehen in der Reaktionskette der Immunantwort recht weit vorne. Diese Zellen werden also sehr früh zur Abwehr von Infektionen mobilisiert. Sie beeinflussen die Bildung von Antikörpern und zudem andere Zellen, die zur Immunität beitragen.
Fünf Ausprägungen
„Zunächst muss man festhalten, dass sich die Expressionsmuster der Immunzellen bei Menschen mit COVID-19 von denen gesunder Personen grundsätzlich unterscheiden. Die Genaktivität, die wir im Blut auslesen können, ist stark verändert. Aber auch unter Patienten gibt es markante Unterschiede. Auf dieser Grundlage haben wir fünf unterschiedliche Gruppen identifiziert. Wir sprechen von molekularen Phänotypen“, sagt Dr. Thomas Ulas, Experte für Bioinformatik am DZNE. „Zwei davon stehen für schwere Krankheitsverläufe. Die anderen drei weisen moderatere Symptome auf.“ Die Einteilung erfolgte ausschließlich aufgrund der Transkriptom-Daten. Erst im Nachhinein wurde überprüft, welchen klinischen Verläufen die einzelnen Phänotypen entsprachen.
COVID-19 ist besonders
Die Forschenden nutzten ihre Befunde, um COVID-19 mit anderen Erkrankungen zu vergleichen und auch mit Daten von gesunden Personen. Hierfür konnten sie unter anderem auf Daten der „Rheinland Studie“ – einer Bevölkerungsstudie des DZNE im Raum Bonn – sowie auf wissenschaftliche Datenbanken zurückgreifen. Für den Abgleich wurde ein breites Spektrum von Erkrankungen berücksichtigt: darunter virale Infekte wie Influenza, Infektionen mit HIV und Zika, bakterielle Infekte wie Tuberkulose und bakterielle Sepsis sowie entzündliche Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis. „Alle fünf COVID-19-Phänotypen unterscheiden sich von den übrigen Erkrankungen, die wir untersucht haben“, resümiert Ulas die Ergebnisse. „COVID-19 hat offenbar eine einzigartige Biologie, die sich in der Genaktivität von Immunzellen im Blut wiederspiegelt. Insofern könnte man die Expressionsanalyse zur Diagnose von COVID-19 verwenden. Das wäre eine Alternative oder Ergänzung gängiger Verfahren.“
Suche nach Wirkstoffen
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchten auch nach möglichen Medikamenten gegen COVID-19. Dazu nutzten sie die in Datenbanken hinterlegte Wirkung von rund 900 zugelassenen Medikamenten auf die Expressionsmuster von Zellen. „Wir haben berechnet, welche Pharmaka den veränderten Genaktivitätsprofilen der einzelnen COVID-19-Phänotypen entgegenwirken könnten“, beschreibt Aschenbrenner die Vorgehensweise. Auf dieser Grundlage konnten Wirkstoff-Kandidaten für die Therapie identifiziert werden. „Schon im April vergangenen Jahres haben wir zum Bespiel für Dexamethason und Baricitinib eine potentielle Wirksamkeit bei einer der von uns identifizierten Patientengruppen mit schwerem Verlauf errechnet. Diese Art von Analysen sind, so muss man deutlich sagen, keine Behandlungsempfehlungen. Sie bieten jedoch sehr wohl Ansatzpunkte für die Therapieentwicklung, die dann in entsprechenden Studien überprüft werden müssen. Im Falle von Dexamethason und Baricitinib haben sich unsere Vorhersagen als richtig herausgestellt. Das ist ein Indiz für die Stärke unseres Ansatzes, Bluttranskriptome zur besseren Charakterisierung und Einteilung der Patienten zu verwenden.“
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Das DZNE erforscht sämtliche Aspekte neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS), um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft.