Eine kürzlich publizierte Studie [1] zieht gerade in Fachkreisen viel Aufmerksamkeit auf sich, denn wenige Wochen nach der Einführung der ersten mRNA-basierten Corona-Impfstoffe wird von einer mRNA-Impfung gegen Multiple Sklerose (MS) berichtet. Die tierexperimentelle Studie gilt bei Experten als interessant und weckt Hoffnungen auf einen Durchbruch bei der Behandlung der Autoimmunerkrankung. Dennoch handelt es sich nicht um eine greifbare Therapieoption, die schnell umgesetzt werden kann. Die Entwicklung mit dem Ziel, das Immunsystem „toleranter“ zu machen, ist komplexer als der Ansatz, das Immunsystem gegenüber einem Krankheitserreger auf Angriff zu trimmen, wie bei einer herkömmlichen Impfung.
Multiple Sklerose (MS) ist eine meist schubförmig verlaufende Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Immunsystem bestimmte Strukturen bzw. Proteine (konkret die „Myelinscheiden“ bzw. die Isolierschicht der Nervenfasern) im Gehirn und Rückenmark angreift. Es kommt zu einer chronischen Entzündung und zur Schädigung der Myelinschicht, wodurch die Nervenbahnen die elektrischen Signale nicht mehr richtig weiterleiten. Darüber hinaus kommt es auch zur direkten Schädigung von Nervenzellen und ihren Fortsätzen. Mögliche Symptome sind Missempfindungen (Sensibilitätsstörungen), Sehstörungen (z. B. Doppelbilder), Störungen der Fein- und Grobmotorik, Beinschwäche und Gangunsicherheit. Langfristig kann es zu bleibenden Behinderungen kommen.
Die Therapie der MS besteht in der medikamentösen Unterdrückung der Entzündung und in einer Modifizierung des fehlsteuernden, überaktiven Immunsystems. Meistens ist eine Dauertherapie notwendig, um neue Schübe zu verhindern, eine Heilung gibt es derzeit noch nicht. Das Problem der Therapie ist, dass die Unterdrückung des Immunsystems nicht zu stark sein darf, um nicht gleichzeitig die komplette Abwehrfunktion gegen Krankheitserreger auszuschalten.
Ein anderes Prinzip, das zur Therapie von MS und anderen Autoimmunerkrankungen erforscht wird, beruht darauf, das körpereigene Immunsystem wieder an das auslösende Protein (Autoantigen) zu gewöhnen (Toleranzentwicklung). Das Prinzip ist vergleichbar mit der Desensibilisierung gegen Allergien (umgangssprachlich auch „Allergie-Impfung“, z. B. bei Pollenallergikern). Dabei wird durch eine gezielte Zufuhr des auslösenden Stoffes (des allergenen Antigens = Allergen) die immunologische Überempfindlichkeit abgebaut, das Immunsystems lernt, das Allergen wieder zu tolerieren. Das Allergen/Antigen kann dabei komplett oder nur als kleiner Molekülteil (meist ein Protein oder ein Teil dessen) verabreicht werden, wie bei der mRNA-Impfung gegen SARS-CoV-2.
Nun ist es Forschern gelungen [1], an einem MS-Mausmodell durch die kontrollierte Zufuhr des auslösenden Autoantigens (ein Myelinprotein) die autoimmune Gehirn- und Rückenmarksentzündung (Enzephalomyelitis) zu verhindern bzw. sogar rückgängig zu machen. Anstelle des fertigen Antigens wurde aber nur dessen genetischer Bauplan mittels Nukleosid-modifizierter Boten-RNA („m1Ψ-mRNA“) verabreicht. Im Körper wird daraus dann das Antigen/Protein gebildet, an das sich das Immunsystem (wieder) gewöhnen soll. Im Ergebnis konnte in mehreren MS-Mausmodellen die Erkrankung erfolgreich unterdrückt und die Demyelinisierung verhindert werden; erkrankte Tiere erholten sich.
„An dieser Stelle sollte bereits angemerkt werden, dass die Studie zwar wissenschaftlich hoch interessant ist, aber es ist nicht so, dass wir nun auch in Kürze eine Impfung gegen MS haben werden“, kommentiert Prof. Dr. med. Frauke Zipp, Mainz. „Die Daten dürfen nicht zu der falschen Hoffnung führen, dass eine MS-Impfung kurz vor der Zulassung steht oder binnen weniger Monate entwickelt werden könnte.“ Der Wirkmechanismus des m1Ψ-mRNA-Impfstoffs gegen MS ist nicht mit einem Corona-Impfstoff zu vergleichen: „Bei der Behandlung von Autoimmunerkrankungen ist eine Toleranzinduktion gegen das Antigen das Ziel“, betont Prof. Dr. med. Ralf Gold, Bochum, „dagegen ist bei einer Impfung gegen Viren oder gegen Krebs genau das Gegenteil erwünscht: das Immunsystem soll lernen, den Feind künftig zu erkennen, anzugreifen und zu vernichten.“ Die Gemeinsamkeit der beiden Impfprinzipien besteht lediglich im Einbringen der Antigene in den Körper und sie dem Immunsystem bekanntzumachen. Der weitere Ablauf im Immunsystem ist dann völlig unterschiedlich bzw. in entgegengesetzte Richtungen („Angriff“ oder „Toleranz“). „Bei der Multiplen Sklerose gibt es außerdem sehr viele Antigene, gegen die das Immunsystem gerichtet ist, die wir gar nicht alle kennen und die sich im Verlauf der Erkrankung höchstwahrscheinlich verändern“, so Prof. Zipp. Darüber hinaus erschwert auch die Vielfalt der menschlichen Immunmoleküle (HLA) die richtige Erkennung dieser Antigene.
Daher haben die Wissenschaftler der aktuellen Studie gezielt spezielle Techniken entwickelt, damit in den MS-Mäusen der Weg der Immuntoleranz eingeschlagen wird: Zunächst wurde die Myelin-mRNA mit Pseudouridin modifiziert („m1Ψ-mRNA“) und dann eingebettet in liposomale Nanopartikel den Tieren gespritzt. So gelangte die m1Ψ-mRNA gezielt in die sogenannten antigenpräsentierenden Zellen (APC) der Milz; die APCs stellten dann das fertige Antigen dem Immunsystem vor – ohne dabei gleichzeitig co-stimulatorische (verstärkende) Entzündungssignale zu vermitteln. Genau solche APCs sorgen auch physiologischerweise für Immuntoleranz gegenüber Umweltantigenen und Autoantigenen. Es kam zur Abnahme entzündungsauslösender Immunzellen, der sogenannten T-Effektor-Zellen (Teff) und zur verstärkten Bildung von regulatorischen T-Zellen (Treg). Die Treg-Zellen lösten eine starke „Bystander-Reaktion“ aus, das bedeutet, sie unterdrücken Autoimmunreaktionen auch gegen verwandte Autoantigene. Die Bystander-Reaktion ist von ganz besonderer Bedeutung, so die Studienautoren, da es anders als im Mausmodell bei der MS des Menschen unterschiedliche Autoantigene gibt, die praktisch bei jedem Patienten zu einem individuellen autoantigenen Immunprofil führen.
„Es laufen bereits klinische Studien mit liposomalen Nukleosid-modifizierten mRNA-Nanopartikeln bei verschiedenen Erkrankungen“, kommentiert Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN. „Bis wir allerdings einen Impfstoff gegen MS in der Hand haben werden, ist es noch ein weiter Weg. Aber die Entwicklung dieses Grundprinzips belegt das hohe Innovationspotenzial der neurologischen Forschung und kann ein erster wichtiger Schritt für die Entwicklung einer zielgerichteten Therapie sein.“
Literatur
[1] Krienke C, Kolb L, Diken E et al. A noninflammatory mRNA vaccine for treatment of experimental autoimmune encephalomyelitis. Science 2021; 371: 145–153