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Orale Therapie der spinalen Muskelatrophie bald verfügbar?
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine chronische neurologische Erkrankung, genauer eine Motoneuronerkrankung, bei der es zu schwerer Muskelschwäche und Muskelschwund kommt. SMA Typ 1 betrifft schon Neugeborene, die Säuglinge erlernen meistens nicht einmal eine normale Kopfkontrolle oder freies Sitzen. Die ursächliche Genmutation ist bekannt, was bislang zu drei spezifischen Therapiekonzepten geführt hat, zwei davon sind bereits zugelassen. Nun könnte bald ein drittes (erstmals orales) Präparat verfügbar sein – eine Phase II/III-Studie [1] wurde publiziert – mit vielversprechenden Ergebnissen.
Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) kommt es im Rückenmark zum Funktionsausfall der zu den Muskeln ziehenden Nervenbahnen (2. Motoneuron), so dass die Muskelzellen keine Nervensignale mehr erhalten – es kommt zum „Muskelschwund“ (Muskelatrophie). Die SMA ist sehr variabel, die schwerste Form (Typ 1) betrifft bereits Neugeborene. Die Kinder erreichen in der Regel nicht die Entwicklungs-Meilensteine wie Kopfkontrolle, freies Sitzen oder gar Krabbeln und Laufen; eine vollständig orale Ernährung ist wegen Schluckschwäche meistens nicht möglich. Meistens versterben die Kinder in den ersten zwei Lebensjahren an respiratorischen Komplikationen bzw. Versagen der Atemmuskulatur.
Ursache der SMA ist in ca. 90% der Fälle eine „loss-of-function“-Genmutation auf dem Chromosom 5 im sogenannten „Survival-Motor-Neuron-1“(SMN-1)-Gen. Das SMN-1-Gen kodiert für ein Protein (SMN-Protein), das für die Funktion bzw. das Überleben der Motoneurone notwendig ist. Damit aus der Information auf dem SMN-1-Gen normalerweise das SMN-Protein gebildet werden kann, wird immer erst die DNA des entsprechenden Genabschnitts abgelesen und entsprechende prä-messenger-RNA (Vorläufer-Boten-RNA) gebildet. Dann folgt der sogenannte Splicing-Prozess (bestimmte Abschnitte, sogenannte nicht-kodierende Introns werden aus der prä-mRNA herausgeschnitten), wodurch reife mRNA entsteht. Mit der reifen mRNA als „Matrize“ kann dann das Protein aus einzelnen Aminosäuren zusammengesetzt werden.
Vom SMN-1-Gen gibt es eine fast identische Kopie im Erbgut, das SMN-2-Gen, welches den Funktionsverlust des SMN-1-Gens zumindest abmildern sollte. SNM-2 ist jedoch physiologischerweise nicht voll funktionsfähig (bei der Evolution kam es auf SNM-2 zu einer Punktmutation, wodurch Exon 7 beim Spleißen fälschlicherweise herausgeschnitten wird), so dass von diesem Gen nur viel weniger (außerdem zu kurzes und instabiles) SMN-Protein gebildet wird.
„Hier setzt der Wirkmechanismus von Risdiplam, einem sogenannten ‚small molecule‘, an“, erklärt Prof. Dr. Christine Klein, Past-Präsidentin der DGN. „Es verbessert als ‚Splicing-Modifizierer‘ sozusagen die Ablesbarkeit des SMN-2-Gens, indem das Splicing der SMN2-prä-mRNA optimiert wird und dadurch Exon 7 verbleibt, wodurch schlussendlich mehr und funktionsfähigeres SMN-Protein gebildet wird.“
Im SMA-Tiermodell stiegen unter Risdiplam die Konzentrationen des funktionellen SMN-Proteins im zentralen Nervensystem und in nicht-neuronalen Geweben an. Die vorliegende Publikation berichtet über Teil 1 einer zweiteiligen „open-label“ Phase II/III-Studie („FIREFISH“). Das primäre Outcome waren Sicherheit, Pharmakodynamik und -kinetik (einschließlich der SMN-Konzentration im Blut) sowie die Dosisfindung für Teil 2 der Studie. Klinischer Endpunkt war die Fähigkeit, am Studienende über fünf Sekunden frei zu sitzen.
21 Säuglinge mit molekulargenetisch bestätigter SMA Typ 1 im Alter von 1-7 Monaten wurden in die Studie eingeschlossen. Die ersten 4/21 Kinder bildeten die Niedrigdosis-Gruppe und erhielten nach schrittweiser Steigerung eine Dosis (Monat 12) von einmal täglich 0,08 mg/kg Risdiplam oral (als Saft). Die folgenden 17/21 waren in der Hochdosis-Gruppe mit einer Enddosis von täglich 0,2 mg/kg. Die mediane SMN-Ausgangskonzentration im Blut betrug 1,31 ng/ml (mit Niedrigdosis) und 2,54 ng/ml (mit Hochdosis).
Nach zwölf Monaten waren die medianen Blutkonzentrationen auf 3,05 ng/ml und 5,66 ng/ml angestiegen, was einem medianen Anstieg um das 3- bzw. 1,9-fache des Ausgangswertes entspricht. 24 schwere unerwünschte Ereignisse traten im Studienzeitraum auf, vor allem Atemwegsinfektionen, Lungenentzündungen und akutes respiratorisches Versagen; vier Kinder verstarben bis zum Zeitpunkt dieser Publikation (bei einem Kind wurde auf Wunsch der Eltern die Behandlung abgebrochen, es verstarb nach drei Monaten). 90% (19/21) der Kinder hatten keines der vordefinierten klinischen Ereignisse. 9/21 Kinder der Hochdosis-Gruppe erlangten eine permanente aufrechte Kopfkontrolle; den Endpunkt „freies Sitzen“ erreichten 7/21 Kindern aus der Hochdosis-Gruppe; ein Kind war sogar in der Lage, im gehaltenen Stand sein Körpergewicht zu übernehmen. Kinder mit Niedrigdosis hatten diese Fähigkeiten nicht. 18/21 waren nach 12 Monaten in der Lage zu schlucken und konnten zum Teil sogar vollständig oral ernährt werden. Teil 2 der Studie wird nun mit der höheren Dosis durchgeführt.
„Eine potentielle zukünftige orale Therapie bei der spinalen Muskelatrophie ist ein weiterer Hoffnungsschein für Säuglinge mit SMA Typ 1. Die Erkrankung ist mit 1: 6.000 Geburten eine relativ ‚häufige seltene Erkrankung‘, die für die ganze Familie großes Leid bedeutet“, erklärt Prof. Klein. „Die Ergebnisse genmutationsspezifischer Therapien sind vielversprechend. Es laufen derzeit auch klinische Studien mit Risdiplam bei SMA-Typen des späteren Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters.“
Literatur
[1] Baranello G, Darras BT, Day JW et al. FIREFISH Working Group. Risdiplam in Type 1 Spinal Muscular Atrophy. N Engl J Med 2021 Feb 24. doi: 10.1056/NEJMoa2009965. Online ahead of print. https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2009965
[2] Poirier A, Weetall M, Heinig K et al. Risdiplam distributes and increases SMN protein in both the central nervous system and peripheral organs. Pharmacol Res Perspect 2018; 6: e00447