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„Volksleiden“ Migräne: Ein Update
Eine aktuelle Serien-Publikation in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ gibt eine Übersicht über unser aktuelles Wissen zur Migräne [1, 2, 3]. An der neurovaskulären Erkrankung leiden weltweit über eine Milliarde Menschen. Die moderne Forschung hat inzwischen auch für diese Erkrankung neue, an den Pathomechanismen ansetzende Therapien zur Akuttherapie und Prophylaxe hervorgebracht. Besonders in der Prävention scheint die Zukunft in einer personalisierten, zielgerichteten Therapie anhand individueller Faktoren zu liegen.
In Deutschland sind ungefähr 20 % der Frauen und 8 % der Männer von Migräne betroffen [4]. Die hohe globale Prävalenz und die individuelle Krankheitslast führt zu Beeinträchtigungen in praktisch allen Bereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Am deutlichsten sind die Folgen auf die individuelle Lebensqualität, auf Familie, Freunde sowie am Arbeitsplatz. Migräne ist weltweit bei Berufstätigen unter 50 Jahren (vor allem bei Frauen) die führende Ursache für Arbeitsausfälle/ Krankschreibungen und somit von wirtschaftlichen Schäden. Am häufigsten betroffen sind 25-bis 35-Jährige, wobei in den meisten Studien keine Assoziation der Migräneprävalenz und dem sozioökonomischen Status besteht.
Trotz des zunehmenden Wissens über die Krankheit und deren Therapie ist das Bewusstsein dafür bzw. das Management sowohl im Gesundheitswesen als auch in der Politik unzulänglich. Nur durch gemeinsame Bemühungen der Gesundheitsdienstleister, d. h. durch integrierte koordinierte Versorgungssysteme, in denen sowohl Hausärzte als auch Spezialisten komplementär zusammenarbeiten, wird sich die Versorgung von Migränepatienten verbessern lassen, betonen die Autoren [1]. Für Patienten mit Therapieresistenz, atypischen Verläufen oder bestimmten Komorbiditäten (wie Depressionen, Angststörungen, zusätzlicher Schmerzproblematik) ist die Zusammenarbeit bzw. Überweisungsmöglichkeit flächendeckend sicherzustellen.
Künftig sollen epidemiologische Studien Wissenslücken schließen. Nur eine standardisierte, konsensbasierte Methodik kann künftig eine „best clinical practice“ definieren und die Effektivität von Maßnahmen (auch gegenüber den Kosten) und Vernetzungsstrategien erfassen – oder auch Vergleiche zwischen Ländern ermöglichen.
Zahlreiche Therapien stehen heute zur Therapie der Migräne zur Verfügung. Zu unterscheiden ist zwischen der Behandlung akuter Migräneattacken und der Migräneprophylaxe. In der Publikation [2] werden Effektivität und Sicherheit dieser Medikamente diskutiert – auch bei Kindern und Jugendlichen, in der Schwangerschaft und im Alter. Als „Goldstandard“ der Akutbehandlung (bei Nichtansprechen auf nichtsteroidale Analgetika wie ASS und Ibuprofen) gelten heute Triptane (z. B. Sumatriptan). Bei Übelkeit und Erbrechen werden ergänzend Antiemetika empfohlen.
Wenn die Akutbehandlung der Migräneattacken allein nicht ausreicht (Häufigkeit, Dauer oder Stärke bzw. nach Leidensdruck und Einschränkung der Lebensqualität oder bei Risiko eines Medikamentenübergebrauchs), kann eine Migräneprophylaxe erfolgen. Ziel ist es, Frequenz, Stärke und/oder Dauer der Attacken zu reduzieren. Die Wahl der Medikamente richtet sich nach Faktoren wie Verträglichkeit/Nebenwirkungen, individuellen Begleiterkrankungen, Effektivität, aber auch Verfügbarkeit und Kosten. In Frage kommen Beta-Blocker (Metoprolol, Propranolol), Amitriptylin, Valproat, Topiramat, Flunarizin und OnabotulinumtoxinA. Wenn auch „Botox” nicht zum Erfolg führt, gibt es bereits eine kausal am Krankheitsmechanismus angreifende Therapie (subkutan) mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP (Anti-CGRP, z. B. Fremanezumab, Galcanezumab) oder dessen Rezeptor (Anti-CGRP-R, z. B. Erenumab). Gerade bei der Migräneprophylaxe spielen aber auch nicht-medikamentöse, multidisziplinäre Verfahren eine bedeutende Rolle. Die beste Evidenz gibt es dabei für die kognitive Verhaltenstherapie, Biofeedback und Entspannungstechniken. Weniger gut gesichert ist die Wirksamkeit von physikalischen Therapien, Schlafmanagement, Akupunktur und Ernährungstherapien.
Der dritte Teil der Publikationsreihe [3] befasst sich mit Biomarkern und einer entsprechenden Präzisionsmedizin. Die Diagnose wird normalerweise anhand klinischer Kriterien gestellt, was jedoch der Heterogenität der Erkrankung, einschließlich genetischer und neurobiologischer Faktoren, nicht gerecht wird. Die Biomarker-Forschung hat zum Verständnis der komplexen Pathogenese der Migräne und ihrer Unterformen, zur Diagnostik und Behandlung bereits viel beigetragen. Dabei kommen Biochemie/Labordiagnostik, Genetik, modernste Bildgebung sowie Provokationstestung zum Einsatz. „Ziel ist nicht nur, neue medikamentöse Ansatzpunkte zu finden“, so Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN, „sondern auf diesem Weg auch eine personalisierte, zielgerichtete Therapie und den passgenauen Einsatz, beispielsweise der (kostspieligen) Antikörper-Therapien zu ermöglichen.“
Literatur
[1] Ashina M, Katsarava Z, Do TP et al. Migraine: epidemiology and systems of care. Lancet 2021 Apr 17; 397 (10283): 1485-95
[2] Ashina M, Buse DC, Ashina H et al. Migraine: integrated approaches to clinical management and emerging treatments. Lancet 2021 Apr 17; 397 (10283): 1505-1518
[3] Ashina M, Terwindt GM, Al-Karagholi MA et al. Migraine: disease characterisation, biomarkers, and precision medicine. Lancet 2021 Apr 17; 397 (10283): 1496-1504
[4] https://dgn.org/leitlinien/ll-030-057-2018-therapie-der-migraeneattacke-und-prop…
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32160-7
https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32342-4
https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32162-0