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Corona macht uns müde
Der Verlauf einer Pandemie in einem Land wird wesentlich von sozialen, politischen und psychologischen Prozessen bestimmt. Diese soziale Dynamik erschien bis heute als kaum prognostizierbar, und machte es unmöglich, einen Pandemieverlauf vorherzusagen. Denn die meisten vorliegenden Simulationsmodelle sind nur wenige Wochen belastbar, da sie soziale Prozesse statisch oder zu linear abbilden. Hier setzt eine neue Studie des Helmholtz-Zentrums Hereon von Prof. Kai Wirtz an. Sie ist jetzt im Fachjournal Scientific Reports erschienen.
Jede Pandemie wirkt auf das Leben und Handeln der Menschen, und dies steuert wiederum den Pandemieverlauf. Die bestimmenden sozialen, politischen und psychologischen Faktoren konnten bislang nicht durch mathematische Modelle beschrieben werden, was Prognosen der Coronapandemie schwierig machte. Dem will die neue Studie abhelfen. Der Forscher Kai Wirtz vom Hereon-Institut für Küstensysteme – Analyse und Modellierung hat dort vor allem die sozialen Phänomene und deren Veränderung in quantitativer Form beschrieben. Das entspricht Bestrebungen der Helmholtz-Gemeinschaft, wonach alle Disziplinen angehalten sind, die Forschung zur Pandemie voranzutreiben. „Soziale Modellierung treibt mich als Wissenschaftler schon länger um. Sie ist vor kurzem auch in der Küstenforschung angekommen. Die größte Herausforderung bei dieser Entwicklung war die Einbindung des menschlichen Handelns in konventionelle epidemiologische Modelle“, so Wirtz.
Wie Corona die Menschen verändert
Für die neue Studie nutzt Wirtz die Einmaligkeit der globalen Coronapandemie. Sie geht mit einer nie da gewesenen Datenerhebung einher, wie er betont. Die Studie nutzt einen Teil dieser Datensätze – sie kommen vor allem von Apple, John Hopkins CSSE und YouGov – um ein neuartiges Modell anhand der unterschiedlichen Pandemieverläufe von 20 betroffenen Regionen quantitativ zu testen. Die Regionen entsprechen elf EU-Ländern, darunter Italien, Scheden und Deutschland, dem Iran und acht Bundesstaaten in den USA.
Allen Ländern, die Anfang 2020 von der Pandemie betroffen waren, gelang es, die Infektionsraten durch Maßnahmen wie soziale Distanzierung zu reduzieren. Nachdem im Mai 2020 die Lockdowns aufgehoben wurden, erreichten einige Regionen sehr niedrige Fallzahlen, während andere von einer anhaltend hohen Sterblichkeit betroffen waren. Später, im Herbst und Winter 2020/2021, wurden alle diese Regionen von massiven zweiten und dritten Wellen getroffen, trotz der Erfahrungen aus den ersten Lockdowns.
Das Modell der Studie konnte die Prognostizierbarkeit von gesellschaftlichem Handeln wesentlich verbessern, indem es klassische Gleichungen zur Ausbreitung eines Virus mit einfachen Regeln zur gesellschaftlichen Dynamik kombiniert: Als Grundlage wird angenommen, dass Gesellschaften solidarisch und rational handeln, um die kombinierten Schäden aus COVID-19-bedingter Mortalität und den unmittelbaren sozio-ökonomischen Kosten von Kontaktverboten möglichst gering zu halten. „Allerdings zeigen Simulationsergebnisse, dass noch ein weiterer Mechanismus zentral zur Beschreibung der Dynamik in den 20 Regionen ist: die Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts, in der Wissenschaft soziale Kohäsion genannt, einhergehend mit einer sinkenden Bereitschaft zu sozialer Distanzierung“, sagt Wirtz. Psychologische Ermüdung, bröckelnde Gruppendynamik, Existenzdruck können Ursachen dafür sein.
Verlorener Zusammenhalt
Erst die Simulation dieses Erosionsprozesses führt zu Kurven regionaler Sterblichkeitsraten und Mobilitäts- und Verhaltensänderungen, die fast exakt mit den empirischen Daten übereinstimmen. Die Studie stellt somit das erste Modell vor, das den Vorhersagehorizont von bislang maximal drei Wochen auf bis zu einem Jahr erweitert. Potenziell kann es auch den Einfluss von neuen SARS-CoV-2 Mutationen beschreiben.
Anhand der Studie können die regional diversen zweiten und dritten Wellen der Pandemie als Folge unterschiedlicher gesellschaftlicher Kohäsion und klimatologischer Faktoren erklärt werden. Die Modellrechnungen zeigen, dass in vielen Ländern im Sommer 2020 eine Null-Covid-Strategie möglich gewesen wäre. „Allerdings nur bei Aufhaltung des sozialen Ermüdungsprozesses sowie rigider Einreisebeschränkungen“, sagt Kai Wirtz. Wegen der guten Übereinstimmung mit den Daten kann das Modell Hinweise für mittelfristige strategische Planung geben, etwa zur effizienteren Impfstoffverteilung. Bereits Anfang 2021 sagte es für Deutschland voraus, dass jeder verzögerte Tag der Massenimpfung im Schnitt zu 178 zusätzlichen Covid-Toten führt. Mit dieser Forschung ist der menschliche Umgang mit dem Virus ein Stück besser analysierbar geworden und hilft uns bei zukünftigen Entscheidungen.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1038/s41598-021-93248-y
Weitere Informationen:
https://www.hereon.de/institutes/coastal_systems_analysis_modeling/ecosystem_mod…