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Stigmatisierung verhindert Lehren aus der HIV-Pandemie

Bielefelder Forschende betrachten in „Science“ die Folgen für Covid-19

Die HIV-Pandemie traf besonders früh die LGBTQI*-Gemeinschaft: Menschen, die ohnehin schon stigmatisiert wurden. Diese Stigmatisierung verhinderte, dass breitere Teile der Gesellschaft die Lehren aus der HIV-Pandemie übernahmen – mit Folgen für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie, argumentieren Wissenschaftler*innen der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Im Fachmagazin Science zeigen sie, wie die Gesellschaft aus den Erfahrungen stigmatisierter Gemeinschaften besser lernen könnte. Der Beitrag ist Teil eines Projekts am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.

„Stigmatisierung hat zur Folge, dass das Wissen, das bestimmte Menschen erworben haben, und die Erfahrungen, die sie gemacht haben, diskreditiert werden“, sagt Professor Dr. Oliver Razum. Er leitet die Arbeitsgruppe Epidemiologie und International Public Health an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. „Das war der Fall während der HIV-Pandemie: Weil die Menschen aus der LGBTQI*-Community stigmatisiert waren, wurden ihre Erfahrungen mit Aids und der Pandemie abgewertet.“ LGBTQI* steht für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, queer und intersexuell.

Die Stigmatisierung führt deswegen dazu, dass viele Lehren aus der HIV-Pandemie nicht in der Gesellschaft ankommen. „Das Wissen ist zwar da, aber nicht zugänglich“, sagt Dr. Yudit Namer, die gemeinsam mit Razum den Beitrag im Fachmagazin Science veröffentlicht hat und ebenfalls in seiner Arbeitsgruppe forscht. „Das hat Folgen für die Covid-19-Pandemie. Zum Beispiel bei Schutzmaßnahmen: Die von HIV betroffenen Gemeinschaften haben gelernt, wie sich die Akzeptanz von Barrieremethoden – etwa Kondomen – erhöhen lässt. Diese Erfahrungen sind aber verloren gegangen und mussten neu erlernt werden, als es um das Tragen von Masken als Schutzmaßnahme ging.“

Darüber hinaus gefährdet Stigmatisierung den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Weil Stigmatisierung gesellschaftliche Gruppen klein hält oder ausschließt, trägt sie dazu bei, diese Gruppen zu marginalisieren – an den Rand zu drängen – und so Ungleichheiten aufrecht zu erhalten. Der nun erschienene Beitrag von Namer und Razum ist eingebettet in ihr Projekt „Gesundheitsversorgung marginalisierter Gruppen als Indikator gesellschaftlichen Zusammenhalts“, ein Teilprojekt des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das FGZ

Das FGZ ist ein Verbund aus elf Hochschulen und Forschungseinrichtungen, darunter die Universität Bielefeld. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das FGZ seit 2020 für zunächst vier Jahre. In ihrem Teilprojekt untersuchen Namer und Razum, wie unterschiedliche marginalisierte Gruppen den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleben und wie dadurch Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt oder gefährdet wird.

Die Überlegungen, die die Wissenschaftler*innen in Science präsentieren, sind in der Vorbereitung zu diesem Projekt entstanden. „Welche kollektiven Erfahrungen marginalisierte Gruppen machen, wird oft übersehen, auch in der Forschung. Die HIV- sowie die Covid-19-Pandemie zeigen, wie wichtig es ist, ihre Perspektive explizit in die Forschung einzubeziehen“, sagt Razum.

Um von den Erfahrungen der LGBTQI*-Community mit der HIV-Pandemie zu lernen, schlagen die Wissenschaftler*innen verschiedene Forschungsmethoden vor. Dazu zählen zum Beispiel digitale „Archive des Überlebens“, in denen vorhandenes Text- oder Filmmaterial, aber auch Interviews mit Betroffenen gesammelt werden. In der partizipativen Handlungsforschung werden Mitglieder der betroffenen Community sogar als Forscher*innen in die Studie mit einbezogen und erarbeiten selbst Forschungsfragen oder führen Erhebungen durch.

Die Forschung muss damit einhergehen, Stigmatisierung zu bekämpfen

Namer und Razum betonen, dass es dabei nicht darum geht, von marginalisierten Gruppen zu verlangen, mehr aus ihren Erfahrungen zu lernen. „Stattdessen müssen die nicht-marginalisierten Gruppen diejenigen sein, die die Lehren aus den Erfahrungen der Betroffenen ziehen. Das kann zudem nur ein erster Schritt sein und muss damit einhergehen, Marginalisierung und Stigmatisierung zu bekämpfen“, sagt Namer.

Auch in anderen Forschungsprojekten stellen die Wissenschaftler*innen Erfahrungen marginalisierter Gruppen in den Fokus. Razum ist Sprecher der Forschungsgruppe PH-Lens, die gesundheitliche Ungleichheiten am Beispiel der Gesundheit Geflüchteter untersucht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Forschungsgruppe noch bis 2022.

„Unsere Forschungen dienen als Vergrößerungsglas: Ihr Ziel ist nicht nur, etwas über die Erfahrungen marginalisierter Gruppen zu lernen – sondern vor allem auch, aus diesen Erfahrungen allgemeine Schlussfolgerungen über Gesundheit und Gesellschaft abzuleiten“, sagt Razum.

Originalveröffentlichung:

Yudit Namer, Oliver Razum: Collective agency transforms societies. Science, https://doi.org/10.1126/science.abl7621, veröffentlicht am 3. September 2021.

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