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Suizidassistenz: Prävention muss an erster Stelle stehen

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat 2020 das Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe für verfassungswidrig erklärt. Jetzt muss die Politik gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, die die Suizidprävention stärken und diejenigen Menschen effektiv schützen, deren Suizidwunsch nicht auf einer freien Entscheidung basiert. Eine aktuelle Umfrage unter DGPPN-Mitgliedern gibt wichtige Hinweise zur Ausgestaltung eines solchen legislativen Schutzkonzepts. Erste Ergebnisse werden auf dem DGPPN Kongress vorgestellt, der vom 24. bis 27. November 2021 im CityCube Berlin stattfindet.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat 2020 festgestellt, dass das Recht auf einen freiverantwortlichen Suizid auch die Freiheit umfasst, hierfür von Dritten angebotene Hilfe anzunehmen. Gleichzeitig sieht das höchste Gericht den Staat in der Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass Suizidassistenz nur dann angeboten werden darf, wenn die Entscheidung tatsächlich „selbstbestimmt, dauerhaft und mit innerer Festigkeit“ getroffen wurde. Das Urteil wirft insbesondere auch für die Psychiatrie komplexe medizinische und medizinethische Fragen auf, die der neue Bundestag bei der Ausgestaltung eines gesetzlichen Schutzkonzepts berücksichtigen muss.

Im Jahr 2020 haben sich 9206 Menschen in Deutschland das Leben genommen, etwa zehnmal so viele Suizidversuche werden geschätzt. 50–90 Prozent aller Suizide stehen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung. Dabei können psychische Krisen oder Erkrankungen – beispielsweise eine Depression oder eine psychotische Störung – die Selbstbestimmungsfähigkeit, die Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit eines Suizidwunsches entscheidend beeinträchtigen. In diesen Fällen müssen Suizidwillige vor dem irreversiblen Schritt einer Selbsttötung geschützt werden. Andererseits kann auch der Suizidentschluss eines psychisch kranken Menschen freiverantwortlich sein.

Vor diesem komplexen Hintergrund sieht es die DGPPN als ihre Aufgabe an, einerseits die Politik bei der Ausgestaltung eines Schutzkonzepts zu beraten und dabei die Expertise von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie in der Suizidprävention und der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit einzubringen und sich andererseits vehement für den Ausbau von Suizidprävention und passender Versorgungsstrukturen einzusetzen. Denn klar ist, dass ein Suizidwunsch in der Mehrheit der Fälle Ausdruck eines behandelbaren seelischen Leidens ist.

Um eine möglichst breite Basis für die Positionierung der Fachgesellschaft zu schaffen, hat die DGPPN im Sommer 2021 eine Umfrage unter ihren Mitgliedern durchgeführt. Von den mehr als 2000 Teilnehmern hält der deutlich überwiegende Teil eine gesetzliche Neuregelung der Suizidassistenz für notwendig. Der Mehrheit ist es dabei wichtig, dass Suizidwillige durch Ärzte beraten werden und die Freiverantwortlichkeit des Entschlusses obligat begutachtet wird. Beratung, Begutachtung und Suizidassistenz sollten dabei von unterschiedlichen Personen oder Institutionen durchgeführt werden. Wenn keine terminale Erkrankung vorliegt, sollte die Zulässigkeit strenger geprüft und eine Wartefrist von mehreren Monaten vorgesehen werden. Ferner befürwortet die Mehrheit ein Verbot kommerzieller Suizidassistenz und eine Stärkung der Suizidprävention.

Aus diesen und weiteren Erkenntnissen wird die DGPPN Anfang 2022 eine konsolidierte Positionierung inklusive konkreter Forderungen ableiten und in den parlamentarischen Prozess einbringen.

Statements

„Ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung bietet verschiedene ethische Herausforderungen. Neben der Förderung und Achtung der Selbstbestimmung sollten vor allem auch die Fürsorgeverpflichtungen berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt der ärztlichen Bemühungen sollte deshalb stehen, wie Menschen mit Sterbewünschen angemessen geholfen werden kann. Diese Hilfe sollte sich dabei nicht auf die Vermeidung der Selbsttötung beschränken, sondern auch die Möglichkeit des assistierten Suizids umfassen. Nur mit einem ergebnisoffenen Angebot wird man die zum Tode verzweifelten bzw. zur Selbsttötung entschlossenen Menschen für eine umfassende Hilfe gewinnen können. Wenn entsprechend geschulte Ärztinnen und Ärzten diese umfassende Hilfe anbieten, kann die geschäftsmäßige Suizidassistenz durch Sterbehilfe- Vereine weitgehend vermieden werden.“

Prof. Dr. Georg Marckmann, MPH
Leiter des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München

„Psychische Erkrankungen können zu Suiziden führen und bestimmte Symptome können die Selbstbestimmungsfähigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit im Sinne des BVerfG-Urteils deutlich beeinträchtigen. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sind Spezialisten in der Diagnostik und Behandlung von psychischen Erkrankungen und in der differenzierten Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit besonders geschult.“

Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke
DGPPN-Vorstandsmitglied und Leiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg

„Risikofaktoren für Suizide sind gut erforscht, daher sind Strukturen zu schaffen, die helfen, Selbsttötung weitestgehend zu vermeiden. Umgehendes Reagieren und das Aufzeigen von Hilfsangeboten sind von immenser Bedeutung, da bei vier von fünf Suiziden zwischen Entschluss und Umsetzung der Tat nur wenige Stunden vergehen.“

PD Dr. Ute Lewitzka
Leiterin des DGPPN-Referats Suizidologie und Vorsitzende der Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)

„Eine gesetzliche Neuregelung muss in erster Linie denjenigen Hilfe und Schutz bieten, die sich aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Krise, sozialen Drucks oder erlebter Ausweglosigkeit das Leben nehmen wollen und dabei nicht frei entscheiden können. Dabei sollte auch darüber gesprochen werden, wie wir unsere Gesellschaft und das Versorgungssystem so gestalten können, dass diese Menschen gar nicht erst suizidal werden. Als Stimme der Psychiater in Deutschland wird die DGPPN den Gesetzgebungsprozess weiterhin eng begleiten. Ärztliche Aufgaben beim Umgang mit suizidalen Menschen sind die Thematisierung von Sterbewünschen und von Alternativen dazu, deren ursächlich-diagnostische Einordnung, die Linderung von Leid durch empathische Zuwendung und wo immer möglich auch durch spezifische therapeutische Maßnahmen, sei es z. B. die Gabe von Schmerzmitteln bei einem Tumorpatienten oder die psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung einer Depression. Für dieses ärztliche Ethos steht die DGPPN.“

Prof. Dr. Thomas Pollmächer
DGPPN-Präsident und Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit sowie Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I in Ingolstadt