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Mutationen im größten menschlichen Protein
Prof. Hendrik Milting (HDZ NRW) und Prof. Wolfgang Linke (UKM) erforschen die vererbbare Herzmuskelerkrankung
Bad Oeynhausen/Münster: Titin ist das größte Protein im menschlichen Körper. Der Eiweißstoff bewirkt, dass sich die Muskeln elastisch bewegen. Neue wegweisende Erkenntnisse darüber, was das für den Herzmuskel bedeuten kann, haben jetzt Forschungsgruppen um Prof. Dr. Hendrik Milting am Herz- und Diabeteszentrum NRW (HDZ NRW), Bad Oeynhausen und Prof. Dr. Wolfgang Linke, Universität Münster, gewonnen, die vor kurzem in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine mit geteilter Erstautorenschaft von Dr. Anna Gärtner (HDZ NRW) veröffentlicht worden sind.
Mutationen im Titin-Gen (TTN) können die Muskelfunktion beeinträchtigen und sind damit eine häufige Ursache für Herzmuskelschwäche, der sogenannten Dilatativen Kardiomyopathie (DCM). Diese Erkrankung des Herzmuskels führt zu einer schwachen Pumpfunktion. Sie ist eine der häufigsten Gründe für eine Herztransplantation. Am Bad Oeynhausener Spezialklinikum beschäftigt sich Prof. Dr. Hendrik Milting, Leiter des Erich und Hanna Klessmann-Instituts für Kardiovaskuläre Forschung und Entwicklung, seit vielen Jahren mit genetischen Veränderungen, die zu einer DCM führen.
„Mehr als 20% der Patienten mit einer Herzmuskelschwäche weisen genetische Veränderungen im Titin-Gen auf“, erläutert Milting. Welche Pathomechanismen allerdings dahinter stecken – also warum TTN-Mutationen krankheitsauslösend sind – war bislang unklar. Die Arbeitsgruppe von Milting hat sich daher gemeinsam mit einem Expertenteam um Prof. Wolfgang Linke, Direktor des Instituts für Physiologie II der Universität Münster (WWU) und seit vielen Jahren auch Leiter einer Arbeitsgruppe am Herzzentrum in Göttingen des Themas angenommen.
„Die Ursachen von DCM sind vielfältig – die häufigste genetische Veränderung ist allerdings ganz klar dieser Typ von TTN-Mutation“, so Prof. Milting. „Genau genommen geht es um Verkürzungen im Titin-Gen, sogenannte Trunkationen bei der Übersetzung der genetischen Information des Gens TTN, kurz TTNtv.“ Die Verkürzung des Moleküls betrifft in der Regel allerdings nur eines der beiden TTN-Kopien im Genom der Patienten. Eines der beiden Gene ist normalerweise gesund. Klar ist: Die TTNtv sind seit etwa einem Jahrzehnt als Auslöser der DCM bekannt. Weshalb Patienten mit nur einem TTNtv-Gen an DCM erkranken, konnte das Team nun beantworten.
HTx und Kunstherzprogramm
Anhand von über 100 Herzgewebeproben, die im Rahmen des Herztransplantations- und des Kunstherzprogramms am Herz- und Diabeteszentrum in Bad Oeynhausen gewonnen und am Erich und Hanna Klessmann-Institut genetisch untersucht wurden, entdeckte die Gruppe bislang unerkannte Pathomechanismen: Die TTNtv-DCM-Patienten enthalten in ihren Herzmuskelzellen weniger normales Titin als DCM-Patienten ohne TTNtv und als herzgesunde Menschen. Weniger Titin bedeutet weniger kontraktile – zum Zusammenziehen fähige – Einheiten. Das Resultat ist eine verminderte Kraftentwicklung – und ein schwächeres Herz. Jeder Mensch besitzt zwei TTN-Gene, die sie jeweils von beiden Eltern geerbt haben. „In der Regel ist nur eines der beiden TTN-Gene bei DCM Patienten durch eine Verkürzungsmutation betroffen. Das eine gesunde Gen produziert zwar normales Titin, kann die Schwäche des anderen, verkürzten Gens allerdings nicht kompensieren“, erklären die Forscher.
Außerdem beobachtete das Team erstmals, dass sich in den Herzen der TTNtv-DCM-Patienten verkürzte Titinproteine nachweisen lassen. „Wir zeigen, dass die trunkierten Proteine den Herzmuskelzellen nichts mehr nützen, da sie nicht in die Sarkomere, die kleinsten kontraktilen Einheiten einer Muskelzelle, eingebaut werden“, so die Wissenschaftler. Stattdessen sammeln sich die verkürzten Proteine in intrazellulären Aggregaten, kleinen Partikeln innerhalb der Zellen. „Ähnlich wie bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer könnten diese verklumpten Proteine ‚giftig‘ sein.“ Eine weitere Erkenntnis: Die Herzmuskelzellen von TTNtv-DCM-Patienten haben ein Problem mit den intrazellulären Protein-Qualitätskontrollsystemen. Mutierte Proteine werden normalerweise möglichst schnell von Zellen durch intrazelluläre Abbausysteme beseitigt, durch die Produktion von trunkierten Proteinen kommen diese Systeme jedoch durcheinander.
Das Team um Linke und Milting ist hoch zufrieden: „Unsere Studie ist eine für das Feld wegweisende Arbeit“, so die Experten. Die Forscher konnten nicht nur den Pathomechanismen näher auf den Grund gehen, sondern anhand eines Modellsystems aus menschlichen Zellkulturen, das in Kollaboration mit der Universitätsmedizin Göttingen entwickelt wurde, auch Vorschläge machen, welche Maßnahmen bei TTNtv-DCM-Patienten für eine erfolgreiche Behandlung oder sogar Heilung der Krankheit ergriffen werden könnten. „Wir zeigen an Stammzell-abgeleiteten Herzmuskelzellkulturen, dass die Genschere CRISP/Cas9 die Mutation prinzipiell wieder reparieren kann. Beim Patienten müsste allerdings die Genschere an Ort und Stelle ansetzen, also genau an der Herzmuskelzelle. Das ist in dieser Form jedoch noch nicht möglich – aber wenn es möglich wird, könnte es die Patienten heilen“, erklären die Wissenschaftler. Prof. Hendrik Milting unterstreicht auch die Rolle der neuen Erkenntnisse für die genetische Beratung betroffener Patienten mit TTNtv-abhängiger Kardiomyopathie hervor: „Erst wenn die Pathomechanismen einzelner Genmutationen bekannt sind, ist es möglich neue Mutationen adäquat zu bewerten und den betroffenen Patienten eine fundierte genetische Beratung anzubieten. Dieses Projekt hat daher schon jetzt einen wichtigen Beitrag für die Medizin geleistet“ führt Milting aus.
Die Studie entstand in enger Zusammenarbeit des Instituts für Physiologie II und der Kardiologie der Münsteraner Uniklinik mit dem Herz- und Diabeteszentrum Bad Oeynhausen und der Universitätsmedizin in Göttingen. Weitere Kollaborationspartner sind das Max-Delbrück-Zentrum Berlin, die Kardiologie an der Technischen Universität München sowie das Integrated Cardio Metabolic Center am Karolinska Institut in Schweden. Unterstützt wurde die Arbeit durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Sonderforschungsbereich 1002), zwei Förderlinien der Medizinischen Fakultät Münster (IZKF und MedK), das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislaufforschung sowie die FoRUM-Forschungsförderung der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Hintergrundinformation/Link zur Publikation:
www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.abd3079