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Im Netz der Angst
Ein Selbstversuch einer Arachnophobikerin
Menschen, die schreiend vor kleinen Spinnen davonlaufen, lösen bei ihren Mitmenschen oft Heiterkeit aus. Aber für die Betroffenen ist eine ausgeprägte Angst vor Spinnen – eine sogenannte Arachnophobie – alles andere als lustig. Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München arbeitet Florian Binder in der Forschungsgruppe um Victor Spoormaker daran, Angstphobien mit Hilfe von virtueller Realität besser zu verstehen und eine standardisierte Therapie zu entwickeln. Wie das funktioniert, hat unsere Autorin in einem Selbstversuch getestet.
Für die Angst vor Spinnen muss man sich meist nicht groß rechtfertigen. Schließlich gruselt sich fast jeder ein wenig vor den achtbeinigen Krabbeltieren. Nicht schön, vielleicht etwas nervig – aber ansonsten nicht weiter schlimm, könnte man meinen.
Was aber, wenn aus Unbehagen regelrechte Panik wird? So wie bei mir! Wenn ich lieber auf dem Sofa schlafe, als an einer Spinne vorbei ins Schlafzimmer zu gehen? Wenn ich mich beim Anblick einer Spinne kaum mehr an etwas anderes denken kann? Dann wird die Spinnenangst zur Belastung. Und nicht nur das – sie kann mich sogar in Gefahr bringen: wenn sich eine Spinne beispielsweise von der Sonnenblende meines Autos abseilt und ich in Panik gerade noch rechts ran fahren kann. Jedes Jahr geraten Menschen aus diesem Grund in teils schwere Unfälle. Arachnophobie kann für die Betroffenen also zu einem echten Problem werden.
Florian Binder ist Doktorand in der Forschungsgruppe von Victor Spoormaker am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Trotz der für Außenstehende oft übertriebenen Reaktionen von Spinnenphobikern tut er die Angststörung nicht als irrational ab. Lieber fragt er sich, ob eine Verhaltensweise adaptiv ist, also ob sie hilft zu überleben. Schließlich kann die Angst vor Spinnen durchaus sinnvoll sein. Der Biss von Phoneutria nigriventer zum Beispiel – umgangssprachlich Bananenspinne – reicht aus, um einen Erwachsenen zu töten. Als ein solches Tier Anfang 2021 in einer Kleinstadt in Hessen aus seinem Terrarium entkommen war, fand sich unter den zu Hilfe gerufenen Feuerwehrleuten denn auch niemand, der die Spinne wieder einfangen wollte. Stattdessen setzte ein Feuerlöscher dem Leben des Tiers ein Ende.
Angststörungen, zu denen Phobien zählen, sind die am häufigsten vorkommende psychische Erkrankung – ungefähr ein Viertel der Bevölkerung wird in seinem Leben unter einer Angststörung leiden. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Dabei ist die spezifische Phobie, also die Angst vor einem bestimmten Objekt oder einer Situation, die häufigste Störung.
Unsere Gene tragen ungefähr zur Hälfte zu Angststörungen bei. Zudem geht man davon aus, dass manche Ängste angeboren sind, weil sie vor Gefahren wie Spinnen oder Schlangen schützten. Außerdem assoziieren Menschen bestimmte Objekte oder Tiere schneller mit Angst. Und zu guter Letzt schauen wir uns unser Verhalten auch von engen Bezugspersonen ab: Wer sieht, dass Eltern oder Freunde auf bestimmte Situationen mit Furcht reagieren, wird daraufhin vermutlich selber ängstlich.
Angst messen
Spoormakers Team will Phobien besser verstehen und ihre Symptome messbar machen. Die Angst vor Spinnen eignet sich als Forschungsobjekt besonders gut, denn sie ist die häufigste Phobie in Deutschland. Außerdem richtet sie sich gegen ein spezifisches Objekt.
Für seine Studie untersucht Florian Binder Menschen mit und ohne Arachnophobie. Sein Experiment ist ein Pionierprojekt: Erstmals studieren Forschende das Verhalten und die Bewegungen von Phobikern, die völlig in eine virtuelle Realität eintauchen. Der Informatiker, Mathematiker und Psychologe kann Umgebungen programmieren, die zwar nur virtuell sind, aber echte Gefühle auslösen – sei es Angst vor Spinnen oder vor großer Höhe. Und diese Gefühle kann Binder messen.
Angst messen – wie soll das gehen? Die Teilnehmenden der Studie tragen eine Virtual-Reality-Brille. Darin sehen sie eine virtuelle Umgebung ähnlich wie in einem 3D-Kino – mit dem Unterschied, dass sie sich inmitten der virtuellen Welt befinden. Sensoren am Körper erfassen die Bewegungen und übertragen sie in die virtuelle Welt. Dadurch sehen sie eine Repräsentation ihres Körpers und können ihre virtuellen Arme und Beine durch Bewegungen ihres echten Körpers steuern. Der visuelle Eindruck ist dadurch so stark, dass die Testpersonen die virtuelle Umgebung als real empfinden.
Die Reaktionen der Versuchspersonen dienen dann als Maß für ihre Empfindung: Die Virtual-Reality-Brille misst die Pupillengröße der Versuchspersonen und verfolgt deren Blickrichtung. Elektroden zeichnen zudem den Herzschlag auf. Parallel dazu werden die Bewegungen erfasst. „Wir fügen all diese Daten zusammen und können so zum Beispiel das typische Vermeidungsverhalten der Teilnehmenden analysieren. So können wir erstmals objektive Daten über die Angst gewinnen“, erklärt Binder. Die bisherigen Erkenntnisse zu psychischer Belastung und Vermeidungsverhalten bei Phobien stammen dagegen aus Selbsteinschätzungen von Betroffenen. Solche subjektiven Angaben sind allerdings schwer vergleichbar, da die Betroffenen Fragen unterschiedlich interpretieren.
Konfrontation mit dem Objekt der Angst
Und so sind auch die heute verfügbaren Therapien individuell und schwierig zu standardisieren. Bei Arachnophobie arbeitet man mit der so genannten Expositionstherapie, also dem Konfrontieren mit dem angstauslösenden Objekt: einer Spinne, zum Beispiel einer Tarantel. Zunächst in Form von Bildern und Filmen. „Viele Menschen mit einer Angststörung setzen im Umgang mit der Furcht auf Vermeidung des auslösenden Reizes. Aber dies löst das Problem für die Betroffenen nicht – im Gegenteil, die Angst kann dadurch immer größer werden“, so Binder. Deshalb sollen die Patientinnen und Patienten ihre Angst so weit abbauen lernen, dass sie sich einer echten Spinne immer weiter nähern und sie sogar berühren können.
Taranteln stehen im Therapiealltag jedoch eher selten zur Verfügung. Außerdem ist diese Therapieform für viele Betroffene sehr belastend. Sie wird daher nur selten in Anspruch genommen.
Wie aufwühlend eine Konfrontation mit dem Objekt meiner Angst sein kann, lerne ich, als ich zur Vorbereitung auf Binders Experiment die App Phobys der Universität Basel teste. Einer Studie zufolge empfinden Menschen nach dem Training mit Phobys, weniger Angst vor Spinnen. Das Programm nutzt „augmented reality“ – also die Verschmelzung von virtueller und realer Welt. Damit projiziere ich mit meinem Smartphone eine virtuelle Spinne in meine reale Umgebung. Mit dem Tier soll ich mich dann in verschiedenen „Schwierigkeitsstufen“ auseinandersetzen.
Für mich ist die Konfrontation jedoch zu viel: Als die virtuelle Spinne im Handy auf meinem Esstisch sitzt, beschleunigt sich mein Herzschlag, und meine Hand fängt an zu zittern. Als dann die Spinne urplötzlich aus meinem Handy herauszuspringen scheint, werfe ich das Gerät vor Schreck in hohem Bogen durchs Zimmer. (Die App hat den Test inzwischen geändert, man kann nun zwischen „sanft“ und „furchteinflössend“ wählen.)
Derart eingestimmt komme ich bei Florian Binder am Max-Planck-Institut an. Doch er lacht und sagt: „Keine Sorge, Schockmomente müssen Sie in unserer virtuellen Welt nicht befürchten.“ Er setzt mir die Virtual-Reality-Brille auf und es kann losgehen: Ich stehe in einem gekachelten Raum. In der Wand gegenüber fährt ein Sichtfenster herab, mir wird die Spinne präsentiert – weit weg, unter einer Glasglocke. Ich soll angeben, als wie unangenehm ich den Anblick des Tiers empfinde. Danach wird mir eine Schildkröte gezeigt. Das sind die beiden Tiere, die mich die nächste halbe Stunde begleiten.
Die Welt um mich herum verändert sich, ich stehe hüfttief im Wasser. Um mich herum ein Beckenrand aus Holzplanken. Links sitzt die Spinne, rechts die Schildkröte. Ich soll Fische fangen und in einen Eimer werfen. Wie nah an der Spinne fische ich und wie nah an der Schildkröte? Ich fange lieber rechts mit dem Fischen an und behalte dabei die Spinne auf der anderen Seite immer im Blick.
Die Umgebung verändert sich wieder. Ich bin in einem großen Büro und soll Bücher von einem Tresen in ein Bücherregal einsortieren. Dabei muss ich einen Tisch passieren – links davon sitzt die Spinne, rechts die Schildkröte. Ich gehe lieber rechts herum. Doch beim nächsten Buch haben Spinne und Schildkröte Platz getauscht. Obwohl der Weg an der Schildkröte vorbei länger ist, wähle ich nun die linke Route.
Ich bin wieder in dem ersten Raum. Vor mir auf einem kleinen Tisch: die Spinne. Nach einem Countdown soll ich hinübergehen – und sie berühren. Ich gehe los. Die Spinne ist schwarz und behaart und krabbelt ein bisschen herum. Ich strecke meine echte Hand aus. Durch die Brille beobachte ich, wie sich meine virtuelle Hand der Spinne nähert. Zunächst schaffe ich es nicht, mich zu einer Berührung zu überwinden. Die Angst nimmt immer mehr zu. Ich feuere mich innerlich an, lache über mich selbst. Als es mir schließlich gelingt, zieht sich das Tier erschrocken zurück. Geschafft! Meine Erleichterung ist groß.
Der Ausflug in die virtuelle Welt hat eine gute halbe Stunde gedauert. Florian Binder nimmt mir die Brille ab. Es dauert einen Moment, bis ich mich erinnere, wo ich bin. Anschließend erklärt mir Florian Binder die Daten der übrigen Testpersonen. Seine Daten stimmen mit meinen eigenen Empfindungen und meinem Verhalten weitgehend überein: Wenn die Teilnehmenden die Spinne berühren sollen, gehen sie zunächst zügig auf das Tier zu und zögen erst unmittelbar vor der Spinne. Und genau wie ich halten auch die Probandinnen mit Spinnenangst in der virtuellen Realität größeren Abstand zu einer Spinne als die Nichtphobiker. Außerdem schauen sie öfter zu dem Tier hin und drehen ihm seltener den Rücken zu. Sie fischen lieber näher bei der Schildkröte als bei der Spinne, nehmen im virtuellen Büro bewusst Umwege in Kauf und brauchen länger, um die Spinne zu berühren. „Eine der Probandinnen hat drei Minuten gebraucht, die Spinne anzufassen. Aber am Ende hat sie es geschafft – wie alle anderen auch“, erzählt Binder.
Sieg über die Angst
Am Ende steht die Erleichterung, die Angst besiegt zu haben. Eine wichtige Erfahrung für das Gehirn, lernt es doch so, dass nicht die Vermeidung der Angst, sondern deren Überwindung positive Gefühle auslöst. Im echten Leben gelangen Phobiker jedoch erst gar nicht an diesen Punkt, wenn sie konfrontative Begegnungen stets vermeiden.
Die virtuelle Realität ermöglicht den Forschenden also, das Verhalten von Angstpatienten objektiv und unter standardisierten Bedingungen zu erfassen. Als Nächstes will Florian Binder untersuchen, ob ein gefühlter Kontrollverlust das Verhalten gegenüber der Spinne beeinflusst. Die Vermutung liegt nahe, da Angstpatienten allgemein das Gefühl haben, weniger Kontrolle zu besitzen. Sie glauben also, dass die Ereignisse um sie herum weniger von ihrem eigenen Verhalten abhängen.
Erkenntnisse wie diese könnten auch für die Behandlung von Phobien genutzt werden. So könnte man den Betroffenen in der virtuellen Welt mehr Kontrolle über das Verhalten der Spinne verleihen und so die spätere Konfrontation in der Realität angenehmer machen – zum Beispiel, indem man in der virtuellen Realität demonstriert, wie sich Spinnen als Reaktion auf den Menschen verhalten. Spoormakers Team will die Software zudem dafür einsetzen, das Vermeidungsverhalten zu verringern. „Eine Virtual-Reality-Therapie könnte das Niveau der Angst ermitteln und die Aufgaben entsprechend anpassen. Psychiater und Psychotherapeutinnen könnten Fortschritte direkt messen und die weiteren Therapie festlegen“, erklärt Spoormaker. Darüber hinaus lassen sich die Rahmenbedingungen nach Belieben verändern: Andere Objekte können die Spinne als Angstobjekt ersetzen. Selbst Sozialphobien wie Platzangst könnte man behandeln. „Der Patient steht dann zum Beispiel in einer virtuellen U-Bahn, umgeben von Passagieren, deren Anzahl wir je nach Schwere der Phobie erhöhen oder verringern und deren Blickrichtung wir verändern können.“
„Eines Tages könnte es das Virtual-Reality-Set auch für die Eigentherapie zu Hause geben“, erzählt mir Spoormaker. Dann muss kein Arachnophobiker mehr eine echte Spinne anfassen, nur um zu lernen, seine Angst zu besiegen. Und mich würde keine Spinne mehr davon abhalten, ins Bett zu gehen.
Panik vor der Spritze
Menschen mit einer Spritzenphobie gehen nicht zum Arzt, damit ihnen kein Blut abgenommen wird, oder sie lassen sich nicht impfen. Dieses Vermeidungsverhalten kann der Gesundheit der Betroffenen massiv schaden und ist möglicherweise ein unterschätzter Grund dafür, warum sich Menschen nicht gegen Corona impfen lassen wollen.
Angelika Erhardt und ihr Team am Max-Planck-Institut für Psychiatrie bieten in solchen Fällen ein Therapieprogramm an. Es soll die Betroffenen in die Lage versetzen, eine Blutabnahme mit einer Spritze auszuhalten. In der auf sechs Sitzungen angelegten Konfrontationstherapie lernen die Betroffenen zunächst, wie Angst entsteht. Dann bekommen sie Bilder von Spritzen gezeigt und nehmen später eine Spritze in die Hand. Am Ende der Therapie wird den Betroffenen mit einer Spritze Blut abgenommen. Die Patienten müssen sich also mit ihrer Angst auseinandersetzen und ihr Vermeidungsverhalten durchbrechen.
Die Therapie ist sehr erfolgreich: Zwei von drei Patientinnen und Patienten fürchten sich danach weniger vor einem Piecks.
Auf den Punkt gebracht:
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Phobien werden häufig behandelt, indem die Betroffenen mit dem angstauslösenden Objekt oder der Situation konfrontiert werden. Je nach Art der Phobie kann dies jedoch für die Patienten belastend oder gefährlich sein.
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In einer virtuellen Umgebung lassen sich das Verhalten und die Körperreaktionen bei manchen Angststörungen standardisiert erfassen.
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Virtuelle Realität könnte in Zukunft auch Bestandteil der Therapie von Phobien sein.