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Behandlungsziel: gute Lebensqualität
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin bietet Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
Die menschliche Geschlechtsentwicklung zeichnet sich durch einen biologischen Variantenreichtum aus, sodass die rein zweigeschlechtliche Zuordnung Mann/Frau heutzutage vielfältig differenziert werden muss. Neben einer Variabilität in den üblichen Geschlechterkategorien gibt es Menschen, die aufgrund einer besonderen Variante der Geschlechtsentwicklung einer medizinischen Aufmerksamkeit bedürfen. Viele Menschen wissen dies gar nicht oder erfahren erst davon, wenn beispielsweise aufgrund eines unerfüllten Kinderwunsches Diagnostik betrieben wird. Die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Ulm (UKU) bietet Betroffenen und ihren Familien vielfältige Unterstützungsangebote und leistet Pionierarbeit bei der Qualitätssicherung in der Versorgung.
Varianten der Geschlechtsentwicklung (englisch: differences of sex development oder DSD) – unter diesem Begriff wird eine heterogene Gruppe von seltenen, angeborenen Besonderheiten der biologischen Geschlechtsentwicklung zusammengefasst. Diese können sich etwa in der Entwicklung des inneren und äußeren Genitals im Embryo zeigen oder in Abweichungen der Geschlechtschromosomen. „Bei Varianten der Geschlechtsentwicklung kann es sehr unterschiedliche Diagnosen geben, manchmal sind weltweit sogar nur wenige einzelne Fälle dokumentiert“, erklärt Professor Dr. Martin Wabitsch, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des UKU. „Nimmt man alle Varianten der Geschlechtsentwicklung zusammen, haben etwa 1,7 Prozent der Bevölkerung einen in irgendeiner Weise nicht-binaritätskonformen Körper. Dies entspricht ungefähr dem Anteil rothaariger Menschen weltweit gesehen – ein Vergleich, der gut zeigt, wie wir in anderen Bereichen Vielfalt als selbstverständlichen Teil der Normalität begreifen“. Diesen kleinen Zahlen stehen große Zahlen gegenüber: die große Mehrheit der Betroffenen erfährt im Laufe ihres Lebens relevante Diskriminierungserfahrungen – auch im Gesundheitssystem.
Das Team der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie beschäftigt sich im Rahmen des Projekts DSDCare mit der Verbesserung der Versorgung für Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Zentraler Baustein der Versorgung ist eine interdisziplinäre Sprechstunde, in der über 120 junge Menschen betreut werden – von Neugeborenen bis zu jungen Erwachsenen. Das Einzugsgebiet der Klinik reicht in diesem Bereich von Freiburg über den Bodensee, bis Würzburg und hinter München/Passau. Kurzum: ganz Süddeutschland. Die Sprechstunde findet einmal im Monat statt, beteiligt sind die Expert*innen Kay Winner und Dr. Gloria Herrmann aus der Endokrinologie, Agnes Bauer aus der Psychologie, Elvira Stoll aus der Chirurgie sowie Prof. Dr. Anne-Karoline Ebert aus der Urologie. Unter diesen 120 Menschen sind auch Personen, die nur einmal jährlich oder seltener zu einem präventiven Checkup kommen. „Oft muss medizinisch erst einmal gar nicht so viel getan werden. Dann steht vor allem die frühzeitige Begleitung der Familien im Fokus, die vor vielfältigen Herausforderungen stehen: Was genau erzählt man der näheren Familie? Wie kläre ich mein Kind auf? Wie treffe ich die besten Behandlungsentscheidungen für dieses? Bei all diesen Fragen stehen wir unterstützend zur Seite. Indem wir die Familien individuell und eng begleiten, möchten wir erreichen, dass eine Problemperspektive gar nicht erst aufgebaut wird. Unser Behandlungsziel ist in erster Linie eine gute Lebensqualität,“ sagt Professor Wabitsch.
Durch das Projekt DSDCare wird die interdisziplinäre Sprechstunde ergänzt um ein zentrales Versorgungsregister der beteiligten Kliniken und Zentren. In ihm werden patient*innen- und zentrenbasierte Daten zur medizinischen Versorgung erfasst. Teilnehmende erhalten regelmäßig Fragebögen und geben darin beispielsweise an, wie zufrieden sie mit der Versorgung sind oder wie sie mit ihrer Diagnose umgehen. „Als marginalisierte Gruppe sind Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung leider noch immer systematisch diskriminiert und unterversorgt. Das Register hilft uns, Versorgungslücken zu identifizieren und zu schließen“, erklärt Professor Wabitsch.
Um Betroffene und ihre Familien darüber hinaus zu unterstützen, bieten die Expert*innen der Klinik im Rahmen des Projekts „Empower DSD“ regelmäßig Schulungen für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern an. Die Teilnehmenden werden dort ausführlich und teilweise auch spielerisch über ihre Diagnosen aufgeklärt. Das Wichtigste jedoch: sie sollen gestärkt werden, ihren eigenen Weg mit der jeweiligen Diagnose selbstbestimmt und „empowered“ zu gehen. Neben Wissensvermittlung stehen Zuhören, Beantworten offener Fragen, psychologische und sozialrechtliche Beratung und vor allem die Vernetzung mit anderen Familien im Vordergrund.
Projekt DSDCare
Das Projekt DSDCare wird deutschlandweit von insgesamt 10 klinischen Zentren, zwei Forschungsinstitutionen und zwei Selbstorganisationen durchgeführt. DSDCare wird vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) finanziell gefördert und zielt auf eine langfristige Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung über die Lebensspanne. Die Projektleitung liegt bei der Universität zu Lübeck.
https://dsdcare.de/de/
Projekt Empower DSD
Das Projekt Empower DSD verfolgt die Konzeption, Durchführung und Evaluation einerseits von Schulungen für Kinder, Jugendliche und deren Eltern sowie andererseits von strukturierten Informationskonzepten, die die systematische Begleitung von Familien und Betroffenen bei Neudiagnosen unterstützt. Neben fünf klinischen Zentren und drei Forschungspartnern sind die Initiativen 47xxy klinefelter syndrom, Turner-Syndrom-Vereinigung, AGS-Eltern- und Patienteninitiative e.V. sowie Intergeschlechtliche Menschen e.V. an der Studie beteiligt. Das Projekt wird aus Mitteln des Innovationsfonds gefördert.
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