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COVID-19: Neue Einblicke in die Prozesse der Genesung nach schwerer Erkrankung

Neuartige Methode der Datenanalyse hilft bei der Erkennung verborgener Krankheitsmechanismen

Die Genesung nach schwerem COVID-19 wird durch den allmählichen Rückgang bestimmter weißer Blutkörperchen und Veränderungen in der molekularen Steuerung des Immunsystems geprägt. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forschungsteam unter Koordination des DZNE, das darüber im Fachjournal Cell Reports Medicine berichtet. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untersuchten das Blut von 139 Patientinnen und Patienten mit intensivmedizinischer Behandlung. Mit Hilfe einer neuartigen Methode der Datenanalyse identifizierten sie – trotz individueller Unterschiede im zeitlichen Krankheitsverlauf – Mechanismen von übergreifender Bedeutung, die den Genesungsprozess aus immunologischer Sicht charakterisieren. Diese Befunde zeigen einen neuartigen Ansatz zur Beurteilung des Krankheitszustands, der zu einer gezielteren und damit wirksameren Behandlung beitragen könnte.

Die aktuelle Studie ist das Ergebnis eines internationalen Projekts, bei dem das DZNE mit dem Helmholtz Zentrum München, dem Technion Institute in Israel sowie der Radboud University in den Niederlanden kooperierte. Die Herausforderung für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestand darin, Gemeinsamkeiten in den Daten verschiedener Patientinnen und Patienten zu erkennen. Denn bei COVID-19, wie auch bei vielen anderen Erkrankungen, kann der Genesungsprozess von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich verlaufen, was sich zum Beispiel darin äußert, wie sich Symptome entwickeln und wie lange eine Hospitalisierung dauert.

„Das macht es schwierig, generalisierbare zelluläre und molekulare Mechanismen zu identifizieren, die der Erkrankung zu Grunde liegen. Solche Erkenntnisse sind jedoch wichtig, um das Wesen der Erkrankung und die Reaktion des Körpers zu verstehen – und damit auch, um über die optimale Behandlung zu entscheiden“, sagt der Bioinformatiker und Genomforscher Dr. Amit Frishberg, Erstautor der aktuellen Fachveröffentlichung. „Deshalb haben wir für die Analyse der Daten ein neuartiges Verfahren verwendet, das wir kürzlich entwickelt haben. Unser computergestützter Ansatz ist darauf ausgelegt, in der Vielfalt der Befunde von unterschiedlichen Patientinnen und Patienten gemeinsame Muster zu erkennen, die möglicherweise nicht offensichtlich sind.“

Blutuntersuchungen

COVID-19 kann viele Organe betreffen. Die Erkrankung wird jedoch bekanntermaßen maßgeblich von der Immunreaktion geprägt. „Diese Reaktion spiegelt sich im Blut wider, denn dort zirkulieren die weißen Blutkörperchen“, sagt Frishberg. „Diese Zellen sind wesentliche Bestandteile des Immunsystems. Deshalb hat sich unsere Studie auf das Blut von Patientinnen und Patienten konzentriert.“

Insgesamt untersuchten die Forschenden Blutproben von 139 Erwachsenen, deren Alter lag zwischen 21 und 86 Jahren, die meisten waren männlich. Die Daten stammten aus drei verschiedenen Kohorten. Alle Patientinnen und Patienten waren auf einer Intensivstation behandelt und beatmet worden: 105 erholten sich so weit, dass sie von der Intensivstation schließlich entlassen wurden, während 34 verstarben. Von den meisten der hier untersuchten Personen gab es mehrere Blutproben, sie waren in der Regel während eines Zeitraums von etwa drei Wochen nach Aufnahme in die Intensivstation entnommen worden. Von einigen Patientinnen und Patienten lagen auch Selbstauskünfte über ihren Gesundheitszustand drei Monate nach Aufnahme in die Intensivstation (und späterer Entlassung) vor.

Ein roter Faden

Die Analyse zeigte, dass der Genesungsprozess mit einer allmählichen Verringerung der Zahl der sogenannten Neutrophilen einhergeht. Sie sind die häufigsten weißen Blutkörperchen und fungieren im Arsenal des Immunsystems als eine der ersten Verteidigungslinien gegen Krankheitserreger. „Wir haben festgestellt, dass Patienten mit schwerem COVID-19 eine hohe Anzahl reifer, das heißt voll entwickelter Neutrophiler im Blut aufweisen, deren Menge während des Genesungsprozesses zurückgeht. Auch die Werte anderer weißer Blutkörperchen verändern sich mit Rückkehr zum Normalzustand, wobei einige von ihnen sinken, während andere ansteigen. Diese Veränderungen sind jedoch weniger ausgeprägt als bei den Neutrophilen“, sagt Frishberg. „Außerdem sehen wir, dass bei Intensivpatienten ein Anstieg reifer Neutrophiler über einen längeren Zeitraum mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem tödlichen Ausgang führt. Dies liegt möglicherweise daran, dass der stetige Zuwachs mit einer überschießenden und damit schädlichen Immunreaktion einhergeht. Die Zahl dieser Zellen im Blut könnte daher als Biomarker dienen und für Prognosen der Krankheitsentwicklung aussagekräftiger sein, als andere Biomarker, die derzeit diskutiert werden.“

Die Forschenden entdeckten noch weitere Veränderungen im Zuge der Genesung, die molekulare Signalwege und Regulationsmechanismen des Immunsystems betreffen. „Das Bemerkenswerte an unseren Ergebnissen ist, dass die Genesung bei allen Patienten dem gleichen biologischen Muster folgte, trotz individueller Unterschiede im zeitlichen Verlauf der Erkrankung. Es gibt also sozusagen einen roten Faden. In unseren Daten haben wir keine Hinweise darauf gefunden, dass der Genesungsprozess nach einer schweren COVID-19-Erkrankung unterschiedlichen Bahnen folgen kann“, sagt Frishberg.

Aneinanderreihung von Transkriptomen

Für ihre Analyse stützten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in erster Linie auf Transkriptome des Blutes. Diese Datensätze spiegeln die Genaktivität aller Blutzellen zu einem bestimmten Zeitpunkt wider. In der Regel werden dabei mehr als 10.000 verschiedene Gene erfasst. „Bluttranskriptome liefern ein sehr detailliertes Bild des immunologischen Geschehens“, sagt Prof. Joachim Schultze, Direktor für Systemmedizin am DZNE und Professor an der Universität Bonn, der an der aktuellen Studie ebenfalls beteiligt war. „Die Analyse dieser sehr komplexen Daten erfordert rechnergestützte Verfahren. Hier kam unser neuer Ansatz ins Spiel.“

Die von den Forschenden angewandte Methode beruht auf einem Rechenalgorithmus, der alle Transkriptome von verschiedenen Patientinnen und Patienten in eine gemeinsame Reihenfolge bringt. „Dies beruht auf Ähnlichkeiten und auf der Annahme, dass alle genesenen Patienten letztlich den gleichen Genesungsverlauf aufweisen. Man kann sich das so vorstellen, dass jedes Transkriptom eine Momentaufnahme des Krankheitszustands darstellt, die sich zur nächsten Momentaufnahme weiterentwickelt. So ähnlich wie viele Einzelbilder letztlich einen Film ergeben“, sagt Schultze. Aus dieser Reihung einzelner, experimentell gewonnener Transkriptome wird ein Modell errechnet, das den kontinuierlichen Verlauf des Genesungsprozesses widerspiegelt. Die biologische Dynamik im Laufe der Zeit wird dabei durch eine vom Algorithmus berechneten Parameter charakterisiert. „Da der Genesungsprozess individuell variieren kann, kann sich dieselbe immunologische Situation bei verschiedenen Patienten zu unterschiedlichen Zeitpunkten einstellen. Die chronologische Zeit ist daher keine geeignete Messgröße, um die Entwicklung des Genesungsprozesses auf biologischer Ebene zu erfassen“, erklärt Schultze. „Unser Verfahren beruht daher auf der Berechnung eines Parameters, die Pseudozeit genannt und die jeder Patientenprobe zugeordnet wird. Dabei steht eine niedrige Pseudozeit für einen schweren Krankheitszustand beziehungsweise einen anfänglichen Genesungszustand, während eine hohe Pseudozeit einen fortgeschrittenen Genesungszustand repräsentiert.“

Ansatz für eine bessere Behandlung

Aus diesem Modell konnten die Forschenden ihre Erkenntnisse über den Rückgang der Neutrophilen und die Veränderungen der Regulationsmechanismen ableiten, die allesamt aus den Rohdaten nicht ersichtlich waren. Darüber hinaus konnten sie durch den Zugang zu Daten verschiedener Kohorten ihre Ergebnisse validieren und überprüfen, ob die Annahmen, auf denen ihr Modell beruhte, mit den experimentellen Befunden tatsächlich vereinbar waren.

„Unsere Studie zeigt, wie man mittels Algorithmen und Modellierung aus komplexen Daten Erkenntnisse extrahieren kann. Wir halten dies für einen leistungsstarken Ansatz mit breitem Anwendungspotenzial. Viele Erkrankungen sind durch heterogene und patientenspezifische Genesungsverläufe gekennzeichnet. Angesichts dessen könnte unser Analyseverfahren auch für die Erforschung anderer Krankheiten als COVID-19 nützlich sein“, so Schultze. „Unterm Strich präsentiert unsere Studie einen neuartigen Ansatz, um den Genesungsstatus von Intensivpatienten auf der Grundlage von Bluttranskriptomen zu erfassen. Dies könnte zu einer gezielteren und damit effektiveren Behandlung von COVID-19 beitragen. In Anbetracht dessen könnte es sich lohnen zu prüfen, inwieweit sich solche Untersuchungen in der klinischen Routine umsetzen lassen.“

Über das DZNE: Das DZNE ist ein von Bund und Ländern gefördertes Forschungsinstitut, das bundesweit zehn Standorte umfasst. Es widmet sich Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Ziel des DZNE ist es, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Dafür kooperiert das DZNE mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das Institut ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und zählt zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung.

Originalveröffentlichung

Mature neutrophils and a NFkB-to-IFN transition determine the unifying disease recovery dynamics in COVID-19.
Amit Frishberg et al.
Cell Reports Medicine (2022).
DOI: 10.1016/j.xcrm.2022.100652