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Viren in neuem Licht
Die Biochemikerin Professorin Dr. Charlotte Uetrecht von der Universität Siegen erforscht, wie Proteine und Proteinkomplexe von Corona- und Noroviren aufgebaut sind – und wie sie sich im Laufe des viralen Lebenszyklus verändern. Um möglichst viele Informationen über kurzzeitig existierende Zustände dieser viralen Bausteine zu erfassen, entwickelt sie eine neue Methode. Die resultierende Detailkenntnis der stofflichen Umwandlungen, die in den Viren stattfinden, weist möglicherweise den Weg zu neuen Angriffspunkten für antivirale Medikamente.
Vor der COVID-19-Pandemie erläuterte Prof.’in Dr. Charlotte Uetrecht manchmal ausführlich, wofür es wichtig ist, dass sie den Aufbau von Coronaviren erforscht. Heute besteht eher bei ihrem zweiten Forschungsobjekt, den Noroviren, Erklärungsbedarf: „Noroviren sind hochansteckend und verursachen Brechdurchfall. Was häufig als Magen-Darm-Grippe bezeichnet wird, bringt vor allem Gefahren für Menschen mit sich, deren Immunsystem geschwächt ist“, sagt die Siegener Professorin. Sie weist außerdem auf die wirtschaftlichen Einbußen hin, die mit Arbeitsausfällen durch vermeintlich harmlose Infektionskrankheiten einhergehen.
Um Einblicke in den Aufbau von Viren zu erhalten, nutzt Uetrecht eine hochmoderne Variante der Massenspektrometrie, die als native Massenspektrometrie bezeichnet wird. In ihrer etablierten Form ist die Massenspektrometrie schon seit rund 100 Jahren bekannt: In einem Analysegerät werden die Moleküle von Stoffen in elektrisch geladene Teilchen – Ionen – umgewandelt, also ionisiert. Das Gerät trennt anschließend die entstandenen Ionen gemäß deren Verhältnis von Masse zu elektrischer Ladung und registriert sie.
Für die Untersuchung von Proteinen und Proteinkomplexen – Zusammenlagerungen von Proteinen –, die in Medizin und Biologie wesentlich sind, war die Massenspektrometrie lange Zeit nicht geeignet. Denn zum einen ließen sich diese riesigen und schweren Moleküle nicht ionisieren. Zum anderen löste man die Substanzen, die analysiert werden sollten, in flüssigen Lösemitteln auf, in denen Proteine ihre ursprüngliche Gestalt verlieren, also ihre Struktur verändern. Doch in den späten 1990er Jahren entwickelten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Geräte und die Ionisierungsmethode so weiter, dass sich unbeschädigte Proteine und Proteinkomplexe in ihrem biologischen Zustand untersuchen ließen: Die native Massenspektrometrie ging an den Start.
Einblicke in die virale Vervielfältigung
Uetrecht und ihr Team haben mit der Methode Details zu Vorgängen aufgeklärt, die während der Bildung des Replikations- und Transkriptionskomplexes (RTC) von Coronaviren ablaufen. Bei diesem Komplex handelt es sich um eine Art virale Maschinerie, die für die Vervielfältigung des Erbguts, also der viralen RNA, zuständig ist. „Ein möglicher Ansatzpunkt für antivirale Medikamente besteht darin, in die Abläufe einzugreifen, an denen der RTC beteiligt ist“, so Uetrecht. Solche Medikamente könnten zielgerichtet die Bildung viraler Nachkommen unterdrücken.
Im Mittelpunkt der Untersuchungen standen die Proteine nsp7 und nsp8 und ihre zwischenzeitliche Zusammenlagerung zu Komplexen. Diese Proteine regulieren verschiedene Enzyme im RTC, darunter die RNA-Polymerase, die am Aufbau des RNA-Stranges aus ihren Grundbausteinen mitwirkt. Die Forschenden um Uetrecht analysierten die nsp7+8-Komplexe sieben verschiedener Coronaviren-Stämme. Darunter waren die Erreger der Atemwegserkrankungen SARS und MERS, der Auslöser der COVID-19-Pandemie und der Erreger der Katzenkrankheit FIP – für die betroffenen Tiere oft tödlich.
Dabei fanden die Forschenden heraus, dass sich die nsp7+8-Proteinkomplexe der verschiedenen Virenstämme unterscheiden: Bei manchen, etwa bei SARS-CoV-2, besteht er aus zwei nsp7- und zwei nsp8-Einheiten, während er unter anderem beim FIP-Virus aus zwei nsp7- und nur einem nsp8-Protein besteht. Eine dritte Virengruppe bildet Komplexe sowohl aus insgesamt vier als auch aus drei Einheiten. „Wir konnten aufgrund unserer Ergebnisse ein Modell vorschlagen, das die Zusammensetzung der unterschiedlichen nsp7+8-Komplexe erklärt. Die Ergebnisse helfen, die genaue Funktion und Rolle von nsp7 und nsp8 im Replikations- und Transkriptionskomplex und damit die Vervielfältigung von Coronaviren besser zu verstehen“, sagt Uetrecht.
Virenhüllen als Transporter
Bei den Noroviren interessiert sich die Siegener Professorin vor allem für den Aufbau der Hülle. Diese ist wesentlich dafür, dass sich Noroviren an menschliche Zellen anheften und anschließend in sie eindringen können, also für die Vorgänge bei der Infektion. Zudem erkennt das menschliche Immunsystem Viren an ihren Hüllproteinen. Damit ist die Kenntnis des Hüllenaufbaus auch für die Impfstoff-Forschung bedeutsam. Kommerzielle Impfstoffe gegen Noroviren gibt es bislang nicht.
Weil sich intakte humane Noroviren in menschlichen Zellkulturen nur äußerst schlecht züchten lassen, nutzen die Forschenden um Uetrecht Insektenzellen. Sie lassen diese das Protein VP1 produzieren, aus dem sich dann von selbst leere Virenhüllen zusammenbauen. An den entstandenen Gebilden, den virusähnlichen Partikeln, lassen sich die Eigenschaften der Hüllen gut untersuchen. Uetrecht und ihr Team haben nachgewiesen, dass die Hüllen verschiedener Noroviren-Stämme unterschiedlich stabil sind.
„Virusähnliche Partikel sind technologisch als Impfstoffe interessant oder weil sie dazu dienen könnten, in ihrem Inneren Medikamente an ihren Wirkort im Körper zu transportieren“, erläutert Uetrecht. Noroviren-Hüllen enthalten üblicherweise 180 Einheiten des Proteins VP1. Doch bei den virusähnlichen Partikeln treten auch welche auf, die beispielsweise aus 60 Einheiten bestehen. Die Forschenden um Uetrecht haben massenspektrometrisch herausgefunden, unter welchen Bedingungen sich welche Partikelgrößen bilden. Die Größe einheitlich einstellen zu können, ist wesentlich, damit die Partikel als verlässliche Transporter von Medikamenten oder als Impfstoffe infrage kommen.
Obwohl die Analyse von Viren mittels nativer Massenspektrometrie erfolgreich und sehr anspruchsvoll ist, spricht Uetrecht von diesem Teil ihrer Arbeit als „Brot- und Butter-Geschäft“. Soll heißen, damit erzielt sie im Alltag des Wissenschaftsbetriebs Ergebnisse, die sie veröffentlichen kann und die sie als fähige Forscherin ausweisen. Der andere Teil ihrer Arbeit besteht darin, hartnäckig eine Idee zu verfolgen, die sie schon 2010 hatte, deren Umsetzung aber langwierig ist.
Sortieren für den Röntgenblitz
Damals las sie während ihrer Doktorarbeit in den Niederlanden einen Fachartikel schwedischer Kollegen, weil diese eine ihrer Publikationen zitiert hatten. In der Einleitung des Artikels wurde über eine Methode berichtet, mit Hilfe von ultrakurzen Laserlichtblitzen im Röntgenbereich Momentaufnahmen von kurzzeitig existierenden Proteinen und Proteinkomplexen zu machen – Momentaufnahmen, die gegenüber der nativen Massenspektrometrie viele zusätzliche Informationen über den Aufbau der Riesenmoleküle offenbaren. Allerdings war für Uetrecht sofort klar, dass die Auswertung bei dieser Einzelpartikel-Bildgebung umso schwieriger wird, je mehr unterschiedliche Proteine und Riesenmoleküle gleichzeitig erfasst werden. Und dass die Existenz langlebiger Moleküle neben kurzlebigen Molekülen ebenfalls zu Problemen führt. „Daher kam mir die Idee, dass man koexistierende, kurzlebige Proteine mit der nativen Massenspektrometrie nach der Masse sortiert herausfiltern und direkt in den Röntgenlaser leiten könnte“, sagt Uetrecht.
2010 war ein Röntgenlaser noch weitgehend Zukunftsmusik. Erst 2017 nahm die erste europäische Anlage dieser Art in Schenefeld bei Hamburg den Betrieb auf: der European XFEL (X-Ray Fee-Electron Laser). Um die Röntgenblitze zu erzeugen, werden Elektronen in einem 1,7 Kilometer langen, unterirdischen Beschleuniger zunächst in Paketen auf hohe Energien und Geschwindigkeiten gebracht. Spezielle Magnetanordnungen bringen die rasenden Elektronen dann auf einen engen Slalomkurs. Dabei sendet jedes einzelne Elektron Röntgenlicht aus, das sich immer mehr verstärkt. 1,2 Milliarden Euro – bezogen auf das Preisniveau 2005 – hat die 3,4 Kilometer lange Anlage gekostet.
Schon während des Baus des European XFEL arbeitete Uetrecht ihre Idee der Kombination von nativer Massenspektrometrie und Einzelpartikel-Bildgebung zu einem Konzept aus. Zugleich suchte sie nach Fördergebern. Inzwischen ist sie Koordinatorin des EU-Projekts MS SPIDOC, das die Praxistauglichkeit des Konzepts belegen soll. Sie und ihre MitarbeiterInnen haben ihre Büros und Labore im Centre for Structural Systems Biology (CSSB) ganz in der Nähe des European XFEL, sind aber bei der Universität Siegen angestellt. Anfang 2023 soll das kombinierte Massenspektrometrie-Röntgenlaser-System am European XFEL von einzelnen Hüllproteinen der Noroviren erste Aufnahmen liefern, aus denen sich dann in kurzer Zeit und Atom für Atom der Aufbau des jeweiligen Proteins rekonstruieren lässt. Damit wäre das Ziel, den Gegner, das Norovirus, genau zu kennen, um ihn optimal bekämpfen zu können, in greifbare Nähe gerückt.