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Balanceakt des Immunsystems: Wenn das Selbst zur Gefahr wird
Die Charakterisierung der Eigenschaften verschiedener HLA-Proteine weist auf individuelle Unterschiede in der Immunreaktion hin.
Ein Forschungsteam der Freien Universität Berlin unter der Leitung des Biochemikers Prof. Dr. Christian Freund und des Computerwissenschaftlers Prof. Dr. Fank Noé hat untersucht, wie sich natürlich vorkommende Varianten bestimmter Moleküle des menschlichen Immunsystems – sogenannte HLA-Proteine – in ihrer Funktion unterscheiden. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die individuelle Ausstattung mit verschiedenen HLA-Proteinen die Fähigkeit des Immunsystems zur Unterscheidung zwischen körpereigen und körperfremd auf komplexe Art und Weise beeinflussen kann. Die in Nature Chemical Biology veröffentlichte Studie „MHC-II dynamics are maintained in HLA-DR allotypes to ensure catalyzed peptide exchange“ trägt zum tieferen Verständnis bei, warum das Immunsystem bisweilen nicht nur Krankheitserreger bekämpft, sondern auch den eigenen Körper angreift (https://doi.org/10.1038/s41589-023-01316-3 ).
Jeder Mensch verfügt als Bestandteil seines Immunsystems über eine individuelle Kombination an Proteinen des Humanen Leukozytenantigen (HLA)-Komplexes. Die Hauptaufgabe dieser HLA-Proteine ist es, Bestandteile des Zellinneren – vor allem Bruchstücke verschiedener Eiweiße – auf der Oberfläche zu präsentieren. Ist eine Zelle gesund, werden auf ihrer Oberfläche nur die üblichen körpereigenen Bestandteile dargestellt. Ist die Zelle jedoch von Krankheitserregern befallenoder zu einer Krebszelle geworden, werden auch körperfremde oder veränderte Bestandteile präsentiert. Bestimmte Zellen (T-Zellen) des Immunsystems beobachten permanent die Oberfläche der anderen Zellen. Falls sie dabei erkennen, dass eine Zelle körperfremde Bestandteile präsentiert, wird in bestimmten Fällen eine Immunreaktion ausgelöst. „So werden von Viren oder Bakterien hervorgerufene Krankheiten bekämpft. Passiert es jedoch, dass T-Zellen fälschlicherweise körpereigene Bestandteile als fremd erkennen und somit eine Immunreaktion auslösen, kann eine sogenannte Autoimmunerkrankung entstehen, bei der es zur Zerstörung körpereigenen Gewebes kommt. Relativ häufige Beispiele für solche Autoimmunerkrankungen sind Typ-1 Diabetes oder Rheumatische Arthritis“, sagt der Biochemiker Christian Freund. HLA-Proteine kommen in der Bevölkerung in sehr vielen verschiedenen Varianten vor. Nicht jede Variante ist in der Lage, jedes Bruchstück eines körpereigenen oder körperfremden Eiweißes zu präsentieren. Es ist bekannt, dass das Vorhandensein bestimmter Varianten der HLA-Proteine das Risiko für Autoimmunerkrankungen erhöht, da sie manche Bruchstücke körpereigener Eiweiße besser präsentieren und so eher eine Immunreaktion gegen den eigenen Körper auslösen.
In der hier beschriebenen Studie sind nun 12 verschiedene Varianten einer Form der HLA-Proteine (HLA-Typ-II-Proteine) auf ihre detaillierten biochemischen und dynamischen Eigenschaften hin untersucht worden. „Es konnte gezeigt werden, dass alle 12 Varianten der HLA-Typ-II-Proteine die grundlegenden Mechanismen der Präsentation beherrschen. Das bedeutet, dass alle HLA-Typ-II-Proteine zunächst zusammen mit einem bestimmten körpereigenen Eiweiß-Bruchstück (CLIP) als Platzhalter hergestellt werden, das dann mit Hilfe eines Katalysator-Proteins (HLA-DM) gegen andere körpereigene oder körperfremde Eiweiß-Bruchstücke ausgetauscht wird“, betont der Computerwissenschaftler Frank Noé. Im Detail unterscheidet sich jedoch nicht nur die Fähigkeit, der verschiedenen HLA-Typ-II-Proteine einzelne Eiweiß-Bruchstücke besser oder schlechter zu präsentieren, sondern auch ihre Fähigkeit, das Platzhalter-Eiweiß auszutauschen.
In der Studie „MHC-II dynamics are maintained in HLA-DR allotypes to ensure catalyzed peptide exchange“ wurde herausgearbeitet, dass hierbei die Fähigkeit der verschiedenen HLA-Typ-II-Proteine, einen dynamische Übergangszustand zu bilden, eine große Rolle spielt. „Das kann man sich im übertragenen Sinne so vorstellen, dass manche HLA-Typ-II-Proteine beweglich genug sind, ab und zu in die Hocke zu gehen, um dann schneller losspringen zu können als andere, die nur unbeweglich in aufrechter Haltung verharren“, erklärt Christian Freund. Diese unterschiedliche Neigung zum Austausch der Eiweiß-Bruchstücke kann beeinflussen, welche zellulären Bestandteile letztendlich den T-Zellen präsentiert werden, um eine Immunreaktion auszulösen. So weisen die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass bestimmte HLA-Typ-II Proteine dann zu einem besonders erhöhten Risiko für Rheumatische Arthritis führen könnten, wenn sie nicht nur in der Lage sind, bestimmte körpereigene Eiweiß-Bruchstücke zu präsentieren, sondern auch wenn ihre Neigung zu dem dynamischen Übergangszustand besonders groß ist. Zusammenfassend zeigt die Studie, dass ein kombinierter experimenteller und theoretischer Ansatz zur Charakterisierung der HLA-Typ-II-Proteine zu mechanistischen Einsichten führt, die biologische und krankheitsrelevante Prozesse erst verstehbar machen.
Originalpublikation:
Link zur Studie: https://doi.org/10.1038/s41589-023-01316-3