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Warum systematische Erinnerungsfehler dabei helfen, sich besser zu erinnern
Es klingt paradox: Das Gehirn erinnert sich systematisch falsch an unpräzise Informationen, und doch erlangt es dadurch einen Vorteil. Denn wäre das Gehirn präziser, wären die Erinnerungen im Mittel sogar ungenauer. Warum das so ist, war bisher nicht bekannt. Nun haben Michael Hahn, Professor für Computerlinguistik an der Universität des Saarlandes, und Xuexin Wei von der Universität von Texas dieses Rätsel lösen können. Die Arbeit wurde im Fachjournal „Nature Neuroscience“ veröffentlicht.
Die menschliche Erinnerung vermittelt das Bild eines stabilen, unverrückbaren Gebäudes. Im Brustton der Überzeugung erzählen wir Anekdoten aus unserer frühen Kindheit. Oder ein Zeuge schildert vor Gericht die Untaten eines Angeklagten, an die er sich präzise erinnern will. Erst Jahre später bringen neue Beweise ans Licht, dass der Verurteilte gar nicht am Tatort war, sondern jemand anderes. Denn in Wahrheit ist unser ach so stabiles Gedächtnis-Gebäude auf Sand gebaut.
Michael Hahn, Professor für Computerlinguistik an der Saar-Universität, und sein Kollege Xuexin Wei von der Universität Texas können nun erklären, warum die menschliche Erinnerung ein so unzuverlässiger Partner ist. Hahn und Wei haben sich der Ungenauigkeit des menschlichen Denkapparates mit mathematischer Präzision genähert. „Seit längerer Zeit ist bereits bekannt, dass Probanden in Experimenten zum Beispiel flache Winkel steiler in Erinnerung haben, als sie tatsächlich waren, und steile Winkel flacher als in Wirklichkeit“, erklärt Michael Hahn, dessen Forschungsinteresse sich unter anderem auf Sprachverarbeitung im Gehirn konzentriert.
„Präzise Winkel hingegen, also etwa null Grad – waagerecht – oder 90 Grad – senkrecht – merkt sich das Gehirn auch sehr präzise“, führt er weiter aus. An einen flachen, „unpräzisen“ 30-Grad-Winkel ausgehend von der Waagerechten zum Beispiel erinnert es sich dann im Mittel eher Richtung 45 Grad, an einen steileren 70-Grad-Winkel hingegen ebenfalls, und das, obwohl der eine tendenziell eher Richtung Waagerechte weist, der andere tendenziell Richtung Senkrechte. „Die Erwartung wäre also genau umgekehrt. Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass der 30-Grad-Winkel in der Erinnerung eher waagerecht wahrgenommen wird und der 70-Grad-Winkel eher senkrecht“, fasst Michael Hahn diese Paradoxie zusammen.
Warum das so ist, konnte bisher niemand erklären. Sprachverarbeitungs-Experte Michael Hahn und sein Kollege Xuexin Wei haben nun aber ein mathematisches Modell entwickelt, das dieses Verhalten unseres Erinnerungsvermögens erklären kann. „Das Gehirn spielt beim Erinnern, vereinfacht gesagt, Wahrscheinlichkeiten durch: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Winkel flach war, wenn er tatsächlich 30 Grad betragen hat?“, fasst Michael Hahn die Grundfrage des Gehirns in dieser Situation zusammen. Da das Gehirn sich an präzise Winkel wie 0 Grad und 90 Grad auch sehr präzise erinnern kann, sagt es: „Mit höherer Wahrscheinlichkeit war der Winkel steiler als 30 Grad, daher tendiere ich eher dazu, den Winkel in Richtung Senkrechte zu erinnern. Denn wäre er flacher gewesen, hätte ich mich mit hoher Wahrscheinlichkeit präziser an ihn erinnert“, so der Trugschluss unseres Gehirns. Dasselbe gilt für den im Beispiel erwähnten 70-Grad-Winkel: Das Gehirn schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass er flacher war, höher ein, und zwar wegen der Tatsache, dass es sich an den präzisen (und näherliegenden) 90-Grad-Winkel mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte präziser erinnern können.
„Wir haben nun ein mathematisches Modell entwickelt, das die scheinbar sich widersprechenden Erwartungshaltungen erstmals erklären kann“, sagt Michael Hahn über die aktuelle Arbeit. Unterm Strich fährt das menschliche Gehirn mit dieser Strategie paradoxerweise sehr gut: „Diese Fehler passieren systematisch, weil der Mensch sich ansonsten entgegen jeder Intuition schlechter an Informationen erinnern könnte“, sagt der Computerlinguist. „Sich fehlerhaft zu erinnern, ist das Beste, was das Gehirn leisten kann!“
In der Wissenschaft führt dieser sogenannte Bias-Variance-Tradeoff dazu, dass sich das Gehirn durch systematisch gemachte Fehler selbst korrigieren kann. In großen Trainingsdatensätzen für Computermodelle zum Beispiel ist ein gewisses Maß an Fehlern, mathematisch als „Rauschen“ bezeichnet, oft hilfreich, damit das System schneller lernen kann und seine Aufgaben effizienter bewältigen kann. Wäre es präziser, käme es nie auf andere Lösungswege, auf die es dank der Fehler aufmerksam wird, und würde in seinem Zustand verharren statt sich zu verbessern.
Das ist nun ein schwacher Trost für all diejenigen, die begeistert Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen, die sich dann als falsch herausstellen, und erst recht für all diejenigen, die aufgrund einer falschen Zeugen-Erinnerung im Gefängnis sitzen. Der Menschheit im Allgemeinen hat diese Strategie aber sehr viele Vorteile gebracht.
Originalpublikation:
Hahn, M., Wei, XX. A unifying theory explains seemingly contradictory biases in perceptual estimation. Nat Neurosci (2024). https://doi.org/10.1038/s41593-024-01574-x