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Cannabis in der Medizin: Datenlage zu möglichen Indikationen bei Erkrankungen

Auf der Tagung 2024 des American College of Physicians (APC) sprach Frau Grossman, Dozentin an der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts und  Medizinische Leiterin für Integration in der Primärversorgung und Verhaltensmedizin bei der Cambridge Health Alliance in Somerville, Massachusetts am 28. Mai 2024 über medizinische Indikationen für Cannabis (1,2). Sie führte zunächst aus, dass hochwertige Studien fehlen. Die Publikationen über die oft synthetischen, meist peroralen  – Cannabinoid-Präparate stammten von Untersuchungen außerhalb der USA und basierten häufig auf Selbstauskünften von Patienten. Bei mindestens drei Indikationen spricht die Datenlage aber für eine Wirksamkeit:

  • Neuropathische Schmerzen
  • Erbrechen und Übelkeit unter Chemotherapie
  • Spastizität bei Multipler Sklerose

Die häufigste Indikation für die medizinische Anwendung von Cannabis waren chronische Schmerzen. Eine Cochrane-Analyse von 16 Untersuchungen ergab einen möglichen Nutzen von Cannabinoiden bei chronischen neuropathischen Schmerzen. Dabei zeige sich jedoch keine gute Beweislage, dass Cannabinoide zu besserem Schlaf führen könnten: Aus dem Jahre 2022 liegt eine Übersichtsarbeit vor, dass weniger als die Hälfte der Studien einen bessere Qualität des Schlafens durch Cannabinoide nachweisen.

Man kann feststellen, dass die Forschungsergebnisse dafür sprechen, dass bei chronischen neuropathischen Schmerzen Cannabis im Vergleich zu Plazebo einen Nutzen bringt. In der AWMF-Leitlinie 030/114 heißt es allerdings einschränkend: „Cannabinoide können zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache nicht empfohlen werden, da ihr Effekt eher gering ausgeprägt ist und die Nebenwirkungsrate hoch ist. Nur in Einzelfällen kann bei Versagen anderer Schmerztherapien der Einsatz von Cannabinoiden als Off-label-Therapie im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts erwogen werden“.

Im Bereich der Endokrinologie gibt es viele Untersuchungen über Cannabis, die Hinweise auf Interaktionen und Veränderungen im Hormonsystem zeigen:

Cannabis senkt Prolaktin, Sexualsteroide, T3 , führt bei Männern zu Oligospermie und vermindert das Körpergewicht. Rezeptoren sind auch in den Epithelialzellen der Brust exprimiert ( vermindert Laktation) und in den Fettzellen (wird auch im Fettgewebe gespeichert). Allerdings existieren keine klaren Evidenzen und es liegt auch keine medizinische Indikation für Cannabis in der Endokrinologie vor.

Deutlicher als für den eingangs besprochenen medizinischen Nutzen von Cannabis ist die Evidenz für potenzielle Schäden in kurzer Sicht. Die Leitlinie für medizinische Cannabinoide in der Primärversorgung führt als schädlicher Nebenwirkungen an: Rauschzustände , Schwindel, Sprachstörungen, Muskelzuckungen Hypotonien und andere. Art und Ausmaß von Langzeitschäden sind unklar, zumal die bekannten Daten von Drogenanwendern für Freizeit- und nicht medizinische Zwecke stammen, wobei gleichzeitig auch Nikotin zur Anwendung kam. Hier muss sicher differenziert werden zwischen Eigentherapie mittels Rauchen, Anwendung von Blütenextrakten einerseits und definierten Fertigarzneimitteln andererseits. Mit Sativex liegt z.B. ein Fertigarzneimittel als Oromucosalspray vor, welches zur Therapie der Spastik bei Multipler Sklerose in Deutschland zugelassen ist, und welches keine Rauschzustände auslöst. Solche standardisierten Präparate sollten gegenüber Cannabisblüten den Vorzug erhalten

Nach schon länger zurückliegenden Studien kann das Risiko für psychotische Symptome wie Paranoia, Wahnvorstellungen, Ideenflucht, Denkstörungen, Depersonalisation oder Halluzinationen durch Cannabiskonsum erhöht werden, insbesondere durch hochpotente Cannabissorten. Eine Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit bei Personen, die schon früh mit Cannabis begonnen haben und nur geringe bis mäßige Mengen konsumierten verschwindet nach einer Studie aus Pittsburg spätestens nach 1 Jahr Abstinenz. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Gehirn noch in Entwicklung ist, kann  Cannabis jedoch  zu bleibenden Schäden führen.

Für Jugendliche ist offenbar „Kiffen“ riskanter als für Erwachsene (3).

Ob man an einer Psychose wie etwa einer Schizophrenie erkrankt, hängt unter anderem von den Genen ab. Cannabis kann, wie in einer  Studie gefunden wurde, das genetische Erkrankungsrisiko zusätzlich erhöhen. Ruud van Winkel et al. zeigten dies an 978 Geschwisterpaaren, von denen eines an einer Psychose erkrankt war. Die nichterkrankten Geschwister wiesen zur Hälfte schon Symptome eines Vorstadiums auf .  Wer von ihnen Cannabis konsumiert hatte, bekam mehr schizotypische Persönlichkeitsstörungen (4). Die  Verhaltensweisen und Gedanken sind hier aber nicht so realitätsfern wie bei einer Schizophrenie.  Nach  Morgan et al. spielt dabei neben anderen auch das Gen AKT1 eine Rolle (5).

Die Auswertung von >63 Millionen Krankenakten in den Bundesstaaten der USA, in denen Cannabis legalisiert worden war,  ergab aber keinen statistisch bedeutsamen Anstieg von Psychosen (6) .

Die gleichzeitige Anwendung von Cannabis mit anderen Substanzen wie Opoiden, Benzodiazepinen oder Amphetaminen könnte die möglichen Risiken von Cannabinoiden erhöhen (vgl. 7).

Helmut Schatz, Medizinische Klinik Bergmannsheil Bochum
Peter Schwenkreis, Neurologische Klinik Bergmannsheil Bochum
Günter Stalla, Internist und Leiter des MVZ Neuroendokrinologie München

Literatur

1.) APC-2024 Congress, Lecture von Frau Grossman, Harvard Medical School, Boston

2.) Marcia Frellick: Cannabis als Therapie: Bei diesen 3 Indikationen könnte sich ein Versuch lohnen – US Internisten fassen die Datenlage zusammen. US- Medscape, May 28, 2024

3.) Klaus, M.N.et al.: Variations of cannabis-related adverse mental health and addiction outcomes across adolescence and adulthoot. A scoping review. Front: Psychiatry 2022; 13:973988. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2022.973988

4.) Ruud van Winkel et al.: Further evidence that cannabis moderates familial correlation of psychosis-related experiences. PLoS ONE 10(9), e0137625

5.) Morgan, C.J.A., et al.: AKT1 genotype moderates the acute psychotomimetic effects of naturalistically smoked cannabis in young cannabis smokerers. Transl. Psychiatry; 2016, 5, e738

6.) Elser, H. et al.: State Cannabis Legalisation and Psychosis-Related Health Care Utilization. JAMA Network Open, 2023;6(1), e2252689

7.) Wieckiewitz, G. et al.: Intensity of Psychoactive Substance Use Affects the Occurrence of Prodromal Symptoms of Psychosis. J. Clin. Med. 2024; 13, 760