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Gewitter im Gehirn: Ein Leben mit Epilepsie
‚Erdbeben‘ nannte der französische Dichter Gustave Flaubert die Symptome eines Leidens, an dem neben ihm noch weitere berühmte Persönlichkeiten gelitten haben und von der heutzutage etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung betroffen ist: die Epilepsie. Maxime DuCamps, Flauberts Biograph, schrieb: „Sein Gesicht bekam plötzlich einen gequälten Ausdruck, und dann zuckten seine Schultern in einer Hilflosigkeit, die herzzerbrechend war. Nach einem Stöhnen, das mir noch heute in den Ohren klingt, kamen die Krämpfe. Sein ganzer Körper bebte. Schließlich sank er in einen tiefen Schlaf und war mehrere Tage völlig erschöpft.“ Geschüttelt von Krämpfen am Boden liegend, die Kontrolle und das Bewusstsein verlieren – das von DuCamps gezeichnete Bild eines sogenannten generalisierten tonisch-klonischen Anfalls, auch ‚Grand mal‘ genannt, ist jenes, das viele Menschen mit einer Epilepsie verbinden. Dabei ist diese Anfallsform nur eine von vielen und überhaupt nur eines der verschiedenen Symptome. Epilepsie ist eine Erkrankung, bei der das Gehirn oder einzelne Hirnbereiche übermäßig aktiv sind und zu viele Signale abgeben. Dies wird auch mit einem ‚Gewitter im Gehirn‘ verglichen: Wie Gewitterblitze jagen Stromstöße durch das Gehirn – die Patientin oder der Patient verkrampft und hat einen epileptischen Anfall. „Wenn nach einem ersten Anfall die Wahrscheinlichkeit für weiter Anfälle auf über 60 Prozent geschätzt wird, ist die Diagnose Epilepsie zu stellen. Dazu wird in der Regel ein Elektroenzephalogramm (EGG) und ein Kernspintomogramm (MRT) durchgeführt. Auch Blut- und Nervenwasseruntersuchungen können wichtig sein, um zum Beispiel eine entzündliche oder autoimmunologische Ursache festzustellen oder auszuschließen. Am wichtigsten ist jedoch weiterhin eine eingehende Befragung durch eine epilepsiekundige Person. Besonders wichtig ist es dabei, den Anfallsbeginn zu erfassen. Das kann deutliche Hinweise auf den Typ der vorliegenden Epilepsie liefern“, erklärt uns Prof. Dr. Felix Rosenow. Er ist Leiter des Epilepsiezentrums Frankfurt Rhein-Main an der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Frankfurt und zweiter Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie.
„Epileptische Anfälle sind das gemeinsame Hauptsymptom aller Epilepsien, obwohl diese ganz verschiedene Ursachen haben können. Epileptische Anfälle sind durch exzessive synchrone Entladungen von Nervenzellen der Großhirnrinde bedingt. Klinisch treten ganz verschiedene Symptome auf wie zum Beispiel ein Sinneseindruck, eine Bewusstseinsstörung, Zuckungen oder repetitive Bewegungen bis hin zum generalisierten tonisch-klonischen Anfall mit Sturz und zum Teil Verletzungen wie Frakturen, Schulterversetzungen oder Verbrennungen. Zu den Folgen einer Epilepsie gehört, neben einer erhöhten Verletzungsgefahr und einer auf das 2,5-fach erhöhten Sterblichkeit, auch eine verminderte Lebensqualität sowie eine geringere soziale und ökonomische Teilhabe. In der Regel besteht keine Fahreignung mehr, da diese bereits mit dem ersten Anfall verlorengeht und einige Berufe, wie zum Beispiel Pilotin oder Dachdecker, nicht mehr ausgeübt werden können. Außerdem besteht die Wahrscheinlichkeit eines geringeren Schulabschlusses und einer Frühberentung“, erklärt Prof. Dr. Rosenow. Er fügt hinzu: „Bei Epilepsien treten zudem gehäuft psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und ein Stigmatisierungsgefühl auf.“
Die Behandlung einer Epilepsie umfasse vier Säulen, so Prof. Dr. Rosenow. Wichtig sei es, den Betroffenen zur Seite zu stehen und sie zu beraten, um nicht nur die am besten geeignete Therapiemöglichkeit zu finden, sondern auch Wege, den Alltag mit der Erkrankung zu meistern. Was sollte bei der Berufswahl beachtet werden? Welche Sportarten sind eher zu meiden? Kann man eine Familie gründen? – Auf diese und viele weitere Fragen erhalten Patientinnen und Patienten aber auch deren Angehörige ausführliche Antworten. Ein weiterer Aspekt der Behandlung seien Medikamente. Dazu erklärt uns Prof. Dr. Rosenow: „Es gibt heute über 20 anfallssuppressive Medikamente, die bei fokalen oder generalisierten Epilepsien eingesetzt werden können. Es ist wichtig, alle möglichen Nebenwirkungen zu kennen und die Medikamente personalisiert, also nach bestimmten Merkmalen der Patientin oder des Patienten, auszuwählen. Oft wird langsam aufdosiert und nach einigen Wochen kontrolliert, ob ein Medikament wirkt und vertragen wird. Außerdem sollte ein eventuell bestehender Kinderwunsch bei der Auswahl berücksichtigt werden. Sollte ein Medikament nicht wirken, wird das nächste entweder kombiniert oder neu gegeben. Wenn zwei Medikamente nicht zur Anfallsfreiheit führen, besteht eine ‚Medikamentenresistenz‘. Dann sollte die Patientin oder der Patient an ein Spezialzentrum wie unser Epilepsiezentrum überwiesen werden.“ Er erzählt außerdem, dass im Epilepsiezentrum Frankfurt Rhein-Main durch ein Epilepsie-Monitoring geklärt werden könne, was für ein Epilepsiesyndrom vorliege. Bei fokalen Epilepsien, die nur in Teilen des Gehirns oder in bestimmten Hirnregionen auftreten, lasse sich im Rahmen eines Video-EEG-Monitorings klären, ob eine Patientin oder ein Patient operiert werden könne und wie die Chancen auf Anfallsfreiheit stünden, aber auch, was die Risiken durch einen solchen Eingriff seien. Prof. Dr. Rosenow sagt: „In Frankfurt ist als besonders schonendes Verfahren die stereotaktische Laserthermoablation (LITT) etabliert. Hierbei wird nur ein kleines Bohrloch von etwa zwei Millimetern gesetzt, durch welches dann eine Lasersonde eingeführt wird, die im Kernspintomographen kontrolliert erhitzt wird, um das Gewebe auszuschalten. Zudem kann über die Möglichkeit einer Hirnstimulation mit Vagusnervstimulator oder EASEE entschieden werden. Beides sind Verfahren, die zwar die Symptome mildern, aber nur selten zu vollständiger Anfallsfreiheit führen.“ Als vierte Säule der Behandlung nennt er die stationäre Komplexbehandlung bei schwerbehandelbaren Epilepsien. Diese werde ebenfalls am Epilepsiezentrum durchgeführt. In diesem Rahmen können Medikamente bei Patientinnen und Patienten mit hochaktiver Epilepsie rasch umgestellt oder auch eine ketogene Ernährungstherapie etabliert werden.
Wenn wir Epilepsie mit einem Gewitter im Gehirn vergleichen, dann sind epileptische Anfälle die Blitzschläge. Die genaue Zeit oder der Ort eines Anfalls können – wie ein Blitzschlag – nicht genau vorhergesagt werden. Was also tun, wenn eine Person im Umfeld einen epileptischen Anfall erleidet? Nicht-Medizinerinnen und -Mediziner erkennen vor allem generalisierte tonisch-klonische Anfälle, meint Prof. Dr. Rosenow. Dabei handle es sich um die dramatischste Form epileptischer Anfälle, auch ‚Grand mal‘ genannt. Es gebe aber relativ viele Patientinnen und Patienten, die nur kurz abwesend wirken, kauen oder nesteln, oder auch nur eine vom Magen her rasch aufsteigende Übelkeit bemerken. Prof. Dr. Rosenow rät: „Ruhe bewahren und verhindern, dass die Person sich verletzt, zum Beispiel durch einen Sturz oder rhythmisches Zucken. Nach dem Anfall sollten die Atemwege freigehalten werden, indem die Patientin oder der Patient in die stabile Seitenlage gebracht und der Unterkiefer leicht vorgezogen wird. Man sollte auf jeden Fall dabei bleiben, bis die Person wieder voll orientiert ist. Außerdem gilt es genau zu beobachten, was passiert. Das kann für die Ärztin oder den Arzt später sehr hilfreich sein. Dauert ein Anfall länger als fünf Minuten, besteht ein sogenannter ‚Status epilepticus‘ und der Rettungsdienst sollte informiert werden.“
Das Gewitter im Gehirn kennt auch Dirk Georg Reining. 1981 erleidet er einen Grand mal-Anfall; leichtere Anfälle im Vorfeld wurden möglicherweise als Unwohlsein interpretiert. Er erzählt uns: „Ab 1981 habe ich anfallssuppressive Medikamente bekommen und darunter war ich fast zehn Jahre lang anfallsfrei. Ich habe den Führerschein gemacht, die Ausbildung abgeschlossen, meinen Beruf als kaufmännischer Angestellter aufgenommen und den mache ich auch heute noch. Als wieder Anfälle auftraten, habe ich dadurch die Fahreignung verloren und bin bis vor eineinhalb Jahren nicht mehr gefahren.“ Er sei vor vielen Jahren schon einmal an der Universitätsmedizin Frankfurt gewesen. Es wurden Anfälle aufgezeichnet, die aber im Oberflächen-EGG von links kamen und nicht zur Läsion passten. Man schickte ihn damals nach Bonn, da es vor Ort noch kein Epilepsiezentrum gab. In Bonn wurden jedoch auch keine Anfälle aufgezeichnet. Ein erneutes Monitoring mit invasiven Elektroden Jahre später zeigte: Tumor rechts, Anfälle überwiegend von links. Ihm wurde zu einer OP des linken Temporallappens geraten.
Der erste Anfall ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Dirk Georg Reining erzählt uns: „Ich erinnere, dass ich meinen Kopf zu einer Seite habe drehen müssen, auch gegen meinen Willen. Dann kam der Bewusstseinsverlust. Ich kam erst wieder zur mir, als der Rettungsdienst da war. Vorher war Epilepsie für mich so eine Art Schimpfwort, dann hatte ich selber eine. Ich habe immer angenommen, das für den Rest seines Lebens zu haben und bin damit halt umgegangen.“
Am Epilepsiezentrum Frankfurt Rhein-Main werde ihm gut geholfen: „Ich wurde immer gut informiert, was es Neues gibt und konnte an Medikamenten-Studien teilnehmen. Es hat mir hier immer sehr gut gefallen, dass ich gut aufgeklärt wurde und mir alle aktuellen Therapiemöglichkeiten genannt wurden. Die Ärztinnen und Ärzte, die Pflege und die Medizintechnikerinnen und -techniker auf der Station 95 haben sich immer gut um mich gekümmert.“ Vor drei Jahren gab man ihm die Empfehlung, sich doch operieren zu lassen. Nach einem erneuten Epilepsie-Monitoring erfolgte dann der epilepsiechirurgische Eingriff durch eine Ärztin der Klinik für Neurochirurgie am 17. Februar 2022. „Nach der OP hatte ich keine Defizite, auch keinen Sehverlust oder Gedächtnisstörungen. Seitdem bin ich wieder komplett anfallsfrei. Seit etwa eineinhalb Jahren fahre ich wieder Auto. Vor wenigen Wochen habe ich mir ein neues Auto gekauft, mit dem ich zur Arbeit und zum Einkaufen fahre. Ich habe weiterhin Respekt vor der Krankheit und denke, dass die Epilepsie wiederkommen könnte. Ich nehme noch eins von vorher zwei Medikamenten; das zweite habe ich vor einem Jahr abgesetzt. Zu den Nachuntersuchungen komme ich gerne und vor allem regelmäßig. Das ist mir sehr wichtig“, sagt Reining.
Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Rosenow und Dirk Georg Reining für das Gespräch.