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Neuer antidepressiver Wirkmechanismus von Ketamin entdeckt
Wissenschaftler konnten einen Teil des Wirkmechanismus des Antidepressivums Ketamin entschlüsseln: Ein Kaliumkanal verändert sich nach Ketamin-Behandlung in einer bestimmten Neuronenart im Hippocampus. Eine Aktivierung dieses Kaliumkanals verstärkt die antidepressive Wirkung von Ketamin. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (MPIP) in München und des Weizmann Institute of Science in Israel entdeckten dies im Mausmodell in Zusammenarbeit mit Forschern des Helmholtz-Zentrums München. Die Ergebnisse liefern neue Ansätze für künftige Antidepressiva. Außerdem zeigen sie Anhaltspunkte dafür, bestehende Medikamente in der klinischen Anwendung neu zu kombinieren.
Das ursprünglich als Narkotikum eingesetzte Ketamin wurde in den vergangenen Jahren als Antidepressivum bei behandlungsresistenten Patienten genutzt. Eine Einzeldosis führt innerhalb weniger Stunden zu einer schnellen antidepressiven Reaktion. Die Wirkung von Ketamin hält nach dem biochemischen Abbau im Körper mehrere Tage lang an. Im Gegensatz dazu wirken „herkömmliche“ Antidepressiva erst nach Wochen. Zudem müssen Patienten sie täglich einnehmen, um die positive Wirkung aufrechtzuerhalten. „Ich möchte verstehen, welche molekulare Kaskade Ketamin auslöst, die zu der anhaltenden antidepressiven Wirkung führt. Wenn man den Mechanismus versteht, kann man bessere Medikamente entwickeln, die das System gezielter beeinflussen können“, erklärt Juan Pablo Lopez, Erstautor der Studie.
Die Studie unter der Leitung von Alon Chen, ehemaliger Direktor des MPIP und derzeitiger Präsident des Weizmann Institute of Science, zeigt, dass Ketamin den Kaliumkanal Kcnq2 in einer bestimmten Neuronenart des Hippocampus hochreguliert. In dieser Hirnregion wird ein Teil der antidepressiven Reaktionen gesteuert. Der Kaliumkanal ist dafür bekannt, dass er die neuronale Stabilität aufrechterhält: Er wirkt wie eine Bremse auf Neurone, die aufgrund von Reizen übermäßig stark Impulse abfeuern. Die Wissenschaftler identifizierten den Kanal mit Hilfe eines neuen methodischen Ansatzes, der Einzelzell-RNA-Sequenzierung. Diese Methode war entscheidend, da sie es ermöglichte, zelltypspezifische molekulare Veränderungen zu erkennen. „Wir konzentrierten uns auf glutamaterge Neuronen, da diese die größten Veränderungen aufwiesen und bereits früher mit der antidepressiven Wirkung von Ketamin in Verbindung gebracht wurden. Andere Forschungsgruppen haben zuvor Gewebeproben verwendet, die sich aus verschiedenen Zelltypen zusammensetzen. Als Folge konnten zelltypspezifische Effekte nicht erkannt werden, da sich Behandlungseffekte unterschiedlicher Zelltypen gegenseitig aufhoben“, fasst Lopez zusammen.
Das Forscherteam aktivierte zudem den Kaliumkanal mit dem Medikament Retigabin. Dieser Wirkstoff wurde zur Behandlung von Epilepsie eingesetzt. Die Aktivierung des Kanals verstärkte die antidepressive Wirkung von Ketamin. Außerdem hielt die Wirkung von Ketamin länger an, wenn die Forscher es zusammen mit Retigabin verabreichten. Die Wissenschaftler nutzten die Maus als Modellorganismus, sie gehen jedoch davon aus, dass die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, da Signalwege zwischen den Spezies konserviert sind. „Ein Vorteil unserer Studie ist, dass wir die von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassenen Medikamente Ketamin und Retigabin verwendet haben. Die Kombination dieser beiden Medikamente kann nun am Menschen getestet werden. Der zusammenwirkende Effekt bei Mäusen deutet darauf hin, dass die Dosen von Ketamin und Retigabin in der klinischen Anwendung reduziert werden können, was Nebenwirkungen verringern könnte“, schlussfolgert Chen. Das Verständnis des Wirkmechanismus von Ketamin und der daran beteiligten Signalwege ist entscheidend, um neue Medikamente zur Behandlung von Depressionen zu entwickeln.
Chen und sein Team validierten ihre Ergebnisse durch eine Reihe aufwändiger und zeitintensiver Experimente, darunter molekulare, elektrophysiologische, zelluläre, pharmakologische, Verhaltens- und funktionelle Experimente. Die Ergebnisse der Studie wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht.
Originalpublikation:
Neuron
DOI: https://doi.org/10.1016/j.neuron.2022.05.001