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Versorgungs-Report zeigt Defizite bei der Umsetzung medizinischer Leitlinien in die Praxis
In vielen Fällen dauert es sehr lange, bis evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen aus medizinischen Leitlinien tatsächlich in der Praxis ankommen und die Versorgung der Patientinnen und Patienten flächendeckend verbessern. Das zeigt der heute vorgestellte Versorgungs-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) anhand ausgewählter Beispiele. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sieht großen Handlungsbedarf bei der besseren Implementierung von medizinischen Leitlinien in die Praxis.
„Unsere Bilanz zur Leitlinien-Umsetzung in der Praxis fällt sehr gemischt aus“, sagt Christian Günster, Leiter des Bereichs Qualitäts- und Versorgungsforschung beim WIdO. So zeigen die Auswertungen auf Basis von AOK-Routinedaten, dass Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner erhalten. Aber es sind auch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern erkennbar: „Frauen sind schlechter versorgt als Männer. Sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren. Bei älteren Frauen ab 80 Jahren liegt die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern des gleichen Alters“, so Günster.
Zu häufiger Einsatz von riskanten Arzneien bei Restless-Legs-Syndrom
Auch bei der Behandlung des Restless-Legs-Syndroms gibt es laut Versorgungs-Report deutliche Defizite in der Umsetzung der Therapieempfehlungen: „In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nicht mehr empfohlen. Unsere Analyse zeigt, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patientinnen und Patienten trotzdem noch eine Dauertherapie mit diesem Mittel erhalten. 30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre damit therapiert“, so Günster. Möglicherweise betrieben viele Patientinnen und Patienten zudem „Ärztehopping“, um an das Mittel heranzukommen. „Hier gibt es noch viel zu tun, um eine leitliniengerechte Arzneimittel-Therapie zu erreichen“, betont Günster.
Der Versorgungs-Report enthält auch Beispiele, in denen neue Leitlinien-Empfehlungen relativ schnell ihre Wirkung entfaltet haben. So gibt es seit 2016 eine Negativ-Empfehlung zu Kontroll-Koronarangiographien nach Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit einem Ballonkatheter (PCI). Der routinemäßige diagnostische Herzkatheter wird nicht mehr empfohlen, wenn nicht zu erwarten ist, dass daraus auch eine therapeutische Konsequenz folgt. „Hier hat die Empfehlung offenbar zu einem Umsteuern geführt. Seit Veröffentlichung der neuen Empfehlungen kam es zu einem deutlichen Rückgang bei den betreffenden Kontroll-Koronarangiographien“, betont Günster.
Medizinische Fachgesellschaften sehen Handlungsbedarf
Die für die Erstellung und Verbreitung der Leitlinien verantwortliche Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sieht großen Handlungsbedarf bei der besseren Implementierung von medizinischen Leitlinien in die Praxis: „Die Fachgesellschaften verfolgen dazu verschiedene Ansätze wie die Bereitstellung der Leitlinien in unterschiedlichen Formaten, die bessere Information und Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte, aber auch die Implementierung der Leitlinien in Qualitätsmanagement-Systeme wie bei den zertifizierten Zentren oder die Integration in Versorgungsmodelle wie die Disease-Management-Programme der gesetzlichen Krankenkassen“, sagt Dr. med. Monika Nothacker, stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement des AWMF und Mitherausgeberin des Versorgungs-Reports. Auch die digitale Unterstützung der Ärztinnen und Ärzte könne sehr sinnvoll sein. Das AWMF-Leitlinienregister enthält etwa 850 Leitlinien von mehr als 100 federführenden Fachgesellschaften. Besonderen Wert lege die AWMF auf die Vermeidung von Interessenkonflikten. „Solche Konflikte werden häufig durch die Bezahlung von Ärztinnen und Ärzten durch die pharmazeutische Industrie verursacht“, berichtet Nothacker. Das Regelwerk der AWMF sehe hier wirksame Maßnahmen wie die transparente Offenlegung von Interessen der Teilnehmenden der Leitliniengruppen mit entsprechenden Maßnahmen wie Einschränkung von Leitungsfunktionen oder von Abstimmungen vor, um Verzerrungen aufgrund solcher Interessenkonflikte zu vermeiden.
Versorgungs-Report zum Thema Leitlinien mit 20 Expertenbeiträgen
Medizinische Leitlinien werden nach systematischen und evidenzbasierten Kriterien
entwickelt und zielen darauf ab, die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten zu verbessern. Als Patientenleitlinien sollen sie auch die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung verbessern. Der aktuell erschienene Versorgungs-Report „Leitlinien – Evidenz für die Praxis“ erhält 20 Beiträge von Expertinnen und Experten, die sich mit der Praxis von Leitlinien auseinandersetzen. Sie beschreiben unter anderem Methodik und Verfahren zur Erstellung und Evaluation von Leitlinien und berichten über die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Umsetzung von Leitlinienempfehlungen in der realen Versorgung. Ein Analyseteil berichtet auf Basis von AOK-Abrechnungsdaten über die Häufigkeit von Erkrankungen und Behandlungen in Deutschland und nimmt dabei die Auswirkungen der Pandemie besonders in den Blick.
Originalpublikation:
Günster, C., Klauber, J., Klemperer, D., Nothacker, M., Robra, B.-P. and Schmuker, C., 2023. Versorgungs-Report Leitlinien: Evidenz für die Praxis. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. DOI: https://doi.org/10.32745/9783954668007