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Erster retrospektiver „Head-to-Head“-Vergleich von Rituximab und Ocrelizumab bei schubförmiger Multipler Sklerose
Für die Therapie der Multiplen Sklerose (MS) wird in bestimmten Situationen zu einer CD20-Antikörpertherapie geraten. Drei verschiedene Präparate (Ocrelizumab, Ofatumumab, Rituximab) können dabei eingesetzt werden. Trotz des „Off label“-Status wird Rituximab aufgrund langjähriger guter Erfahrungen und der geringeren Kosten im klinischen Alltag oft verwendet. Eine retrospektive Nichtunterlegenheitsstudie [1] konnte nun jedoch die Gleichwertigkeit von Rituximab anhand von Registerdaten („real life“) nicht belegen, die Rezidiv- bzw. Schubrate war höher als unter Ocrelizumab.
Bei Multipler Sklerose (MS) wird in bestimmten Situationen zu einer B-Zell-depletierenden CD20-Antikörpertherapie geraten. In den aktuellen S2k-Leitlinien [2] werden dafür drei verschiedene Präparate aufgeführt (Ocrelizumab, Ofatumumab, Rituximab). Rituximab (RTX) ist seit 1998 auf dem Markt verfügbar und wird bei MS als Off-label-Therapie eingesetzt. Inzwischen sind für die MS-Behandlung in Deutschland die CD20-Antikörper Ocrelizumab (2018) und Ofatumumab (2021) zugelassen. Da RTX inzwischen generisch ist, ist nicht mit Zulassungsstudien für den Einsatz bei MS zu rechnen.
Wegen bisher fehlender direkter Vergleiche von RTX mit den anderen CD20-Antikörpern bei MS wird in der Leitlinie keine Präferenz für eines der verschiedenen Präparate angegeben. Trotz der mit einem Off-label Use einhergehenden Unsicherheiten, beispielsweise hinsichtlich Haftungsaspekten und Erstattungsfähigkeit, wird RTX bei MS in der neurologischen Praxis eingesetzt – und zwar nicht nur, da es kostengünstiger ist, sondern auch unter dem Aspekt langjähriger guter Erfahrungen, einschließlich vorliegender Langzeitsicherheitsdaten.
In der Leitlinie wird in einem Exkurs explizit auf die Off-Label-Therapie eingegangen ([2], Seite 50). Es heißt dort: „Die Leitliniengruppe hat sich dafür entschieden, die CD20-Antikörper Ocrelizumab, Ofatumumab und Rituximab als eine gemeinsame Substanzklasse anzusehen und zu bewerten […]. Gründe für diese Einschätzung waren, dass die Entwicklung und die klinische Evaluation von Ocrelizumab klar auf den Vorbefunden der Phase II Studien mit Rituximab beruhen. Auch hinsichtlich der wesentlichen pharmakologischen Eigenschaften sind die beiden therapeutischen Antikörper `quasi identisch`, und große Kohortenstudien belegen die langfristige Wirksamkeit von Rituximab in der MS-Therapie. […] Außerdem war es bis zur Markteinführung von Ocrelizumab gängige Praxis, MS-Betroffene mit Rituximab zu behandeln. Die Möglichkeit zu schaffen, die Therapie dieser Patientinnen und Patienten leitliniengerecht fortzusetzen, ohne ein nie gänzlich auszuschließendes Risiko eines Therapiewechsels in Kauf nehmen zu müssen, erschien der Leitliniengruppe als wesentlich. Gleichwohl sind bei einer Anwendung von Rituximab im Off-label Use Haftungsaspekte und die besonderen Bedingungen der Erstattungsfähigkeit zu beachten. Eine Erstbehandlung mit Rituximab ist dabei nicht primär behandlungsfehlerhaft und das Haftungsrisiko klar umschrieben, stellt jedoch besondere Anforderungen an die schriftliche Aufklärung der Behandelten.“
Nun zeigt allerdings eine neue, in „JAMA Neurology“ publizierte multizentrische Kohortenstudie [1], dass Ocrelizumab möglicherweise Vorteile gegenüber RTX haben könnte. In der retrospektiven Auswertung von Daten des internationalen MS-Base- und dänischen MS-Registers (DMSR) im Zeitraum von Januar 2015 bis März 2021 wurde bei schubförmig-remittierender MS (RR-MS) die Nichtunterlegenheit (d.h. mindestens Gleichwertigkeit) von RTX für die Verhinderung von Schüben und Behinderungen gegenüber Ocrelizumab evaluiert. Die Nichtunterlegenheitsgrenze („Rate Ratio“/ RR) wurde bei 1,63 festgelegt. Gestaltung, Durchführung und Auswertung erfolgten unabhängig von den Sponsoren der Studie [3].
Von 6.027 Patientinnen und -Patienten entsprachen 1.613 (mittleres Alter 42±10,8 Jahre; 68% weiblich, mittlere Erkrankungsdauer ca. 11 Jahre) den Einschlusskriterien für die Analyse. Insgesamt konnten (bei vergleichbaren Ausgangsmerkmalen) 710 mit Ocrelizumab behandelte mit 186 mit RTX-behandelten Patientinnen und Patienten ausgewertet werden. Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 1,4 ± 0,7 Jahre. Im Ergebnis konnte die Gleichwertigkeit von RTX im Vergleich zu Ocrelizumab nicht bestätigt werden: Die RTX-Behandlung war mit einer höheren jährlichen Rückfallrate (ARR „annualized rate of relapses“) verbunden (ARR 0,20 vs. 0,09; Rate Ratio 1,8; p<0,001). Auch das kumulative Rückfallrisiko war unter RTX höher (HR 2,1; 95 %-KI 1,5–3,0). Es gab keine Hinweise auf einen Unterschied bei kumulativen Behinderungen.
Als wichtigste Limitierung der Studie nennt die MS-Base-Studiengruppe den retrospektiven, beobachtenden Charakter der Daten; auch wenn die Kontrolle eines „Indication Bias” mittels „Propensity Score Matching“ mit paarweisen Vergleichen sowie Sensitivitätsanalysen erfolgt sei. Außerdem wurde RTX teilweise als Generikum, teils als Originalpräparat verabreicht, wobei Effektivitätsunterschiede nicht ausgeschlossen werden könnten. Auch seien bei „off label“-Verwendung von RTX unterschiedliche Dosierungs- und Anwendungsregimes möglich, was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse einschränken könnte. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf neu diagnostizierte RRMS sowie Aussagen zum längerfristigen Outcome seien ebenfalls nicht möglich.
„Die Ergebnisse sind für mich überraschend, da ich nach meinen persönlichen Erfahrungen im klinischen Alltag diese beiden Substanzen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit als vergleichbar einstufen würde“, kommentiert Leitlinien-Erstautor Prof. Dr. Bernhard Hemmer, München. Auch deuten die beobachteten Therapieeffekte in den Phase-II- und -III-Studien mit den beiden Substanzen nicht auf substanzielle Unterschiede hin, auch wenn Ocrelizumab und Rituximab nicht direkt gegeneinander getestet wurden. „Trotzdem gibt uns die Studie bei allen Limitationen ernstzunehmende Signale, weiter zu überprüfen, ob die aktuellen Leitlinien künftig überarbeitet werden sollten. Hier ist allerdings dringend mehr Evidenz erforderlich; daher laufen in Dänemark und Norwegen bereits zwei prospektive randomisierte klinische Studien, um herauszufinden, ob sich der Unterschied in der Wirksamkeit bestätigt – damit wir künftig unsere Patientinnen und Patienten bestmöglich behandeln können.“
Den Ruf nach randomisierten Studien teilt auch die Klinische Kommission Neuroimmunologie der DGN. „Aufgrund der zahlreichen methodischen Schwächen konnte diese Studie eine Unter- oder Überlegenheit nicht sicher nachweisen, womit Rituximab wie bisher eine therapeutische Option bleibt“, so Kommissionsmitglied Prof. Dr. Manuel Friese.
[1] Roos I, Hughes S, McDonnell G et al.; MSBase Study GroupDanish MS Registry Study Group. Rituximab vs Ocrelizumab in Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis. JAMA Neurol 2023 Jun 12:e231625 doi: 10.1001/jamaneurol.2023.1625. Online ahead of print. PMID: 37307006
[2] Hemmer B et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 28.06.2023) https://dgn.org/leitlinie/176
[3] Sponsoren und Unterstützer: The National Health and Medical Research Council, Postdoktoranden-Stipendium (Dr. Roos, Australien) sowie Biogen, Novartis, Merck, Roche, Teva und Sanofi Genzyme (MSBase Foundation)
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 11.500 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org
Originalpublikation:
doi: 10.1001/jamaneurol.2023.1625