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Stellungnahme zur heute vorgestellten Suizidpräventionsstrategie

Zentrale Rufnummer 113 und systematische Erhebung von Suizidversuchen von Stiftung begrüßt / Kritik: 4-Ebenen-Interventionsansatz als wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen Suizidversuche und Suizide nicht bedacht

Leipzig/ Frankfurt am Main – Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention befürwortet die nationale Suizidpräventionsstrategie, die heute von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vorgestellt wurde. In Deutschland begehen im Durchschnitt täglich 28 Menschen einen Suizid und schätzungsweise 500 Personen einen Suizidversuch. „Mit wenigen Mitteln kann bei der Suizidprävention noch viel erreicht werden – vor allem, wenn man bedenkt, wie viel Geld für die Verhinderung von Verkehrstoten ausgegeben wird, obwohl durch Unfälle im Vergleich zu Suiziden zwei Drittel weniger Menschen versterben“, erklärt Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.

Viele der heute vorgestellten Eckpunkte der Strategie, wie z.B. die Etablierung einer bundesweiten Rufnummer für Menschen in akuten suizidalen Krisen unter 113 oder die systematische Erhebung von Suizidversuchen werden von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention unterstützt.

Jedoch weist das Papier auch Fehlstellen auf: So ist es im Rahmen der Suizidprävention essentiell, die Versorgungssituation psychisch erkrankter Menschen zu verbessern. Insbesondere Depressionen gehen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher. Übersehen wurde in der Strategie zudem das weltweit am meisten verbreitete und am besten evaluierte Programm zur Suizidprävention: der 4-Ebenen-Ansatz, in Deutschland in 90 regionalen „Bündnissen gegen Depression“ von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe umgesetzt. Diese bereits bestehenden Strukturen sollten Teil einer nationalen Suizidpräventionsstrategie sein.

Wie Suizidprävention gelingen kann: international etablierter 4-Ebenen-Ansatz

Im Rahmen des BMBF-geförderten Kompetenznetzes Depression/Suizidalität wurde unter Leitung von Prof. Hegerl ein gemeindebasierter 4-Ebenen-Interventionsansatz entwickelt und wissenschaftlich untersucht. Dieser Ansatz verbindet zwei Ziele: die bessere Versorgung von Menschen mit Depression und die Prävention von Suiziden sowie Suizidversuchen. In einer umschriebenen Region (Stadt, Gemeinde) werden dafür gleichzeitig Interventionen auf vier Ebenen gestartet:

• Kooperation mit Hausärzten (u.a. Schulungen)
• Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Plakatkampagne, öffentliche Veranstaltungen)
• Schulungen von Multiplikatoren (z.B. Pfarrer, Lehrer, Journalisten, Altenpflegekräfte, Polizisten)
• Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige, u.a. durch Informationsmaterialien, die Förderung der Selbsthilfe und das digitale Selbstmanagement-Programm iFightDepression (tool.ifightdepression.com/).

Dieser Ansatz wurde nicht nur in Deutschland durch die Bündnisse gegen Depression unter dem Dach der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in 90 Städten und Regionen implementiert, sondern auch in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern (Australien, Neuseeland, Kanada und Chile) übernommen. Basierend auf mehreren Studien kommt ein neuer systematischer Review (Linskens et al 2022) zu dem Schluss, dass diese 4-Ebenen-Intervention der einzige ausreichend evaluierte suizidpräventive Mehrebenenansatz ist.

„Durch dieses 4-Ebenen-Interventionskonzept und das bestehende Netzwerk aus vielen regionalen Bündnissen besteht in Deutschland eine optimale Ausgangslage für Suizidprävention. Bisher werden diese lokalen Bündnisse zur Suizidprävention durch Bürgerengagement, Ehrenamt und Spenden getragen. Äußerst hilfreich wäre es, wenn diese gerade vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuregelungen zum assistierten Suizid eine staatliche Förderung erhalten würden“ so Hegerl.

Mehrheit der Suizide erfolgt im Kontext psychischer Erkrankungen

2022 verstarben in Deutschland 10.119 Menschen durch Suizid – das sind mehr Menschen, als im Verkehr (3.141), durch Drogen (1.990) und durch AIDS (264) zusammengenommen zu Tode kommen (Statistisches Bundesamt, 2023). Die Zahl der Suizidversuche wird mehr als 20-mal so hoch geschätzt. Suizide erfolgen fast immer vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression. „Die überwältigende Mehrheit der Suizide in Deutschland sind keine Freitode, sondern die tragische Folge schwerer psychischer Erkrankungen, wobei Depressionen mit Abstand die wichtigste Rolle spielen. Dies liegt an dem hohen Leidensdruck in Verbindung mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit. Suizidalität und Hoffnungslosigkeit sind zentrale Krankheitszeichen einer depressiven Erkrankung. Bestehende Probleme werden in der Depression vergrößert und als unlösbar wahrgenommen. In ihrer Verzweiflung sehen Menschen dann im Suizid den einzigen Weg, diesem unerträglichen Zustand zu entkommen“, erklärt Prof. Ulrich Hegerl. Die konsequente und leitlinienkonforme Behandlung der Depression und anderer psychischer Erkrankungen ist zentraler Baustein jeder Suizidprävention. Ansprechpartner sind Psychiater, Psychologische Psychotherapeuten und Hausärzte.

In den letzten 40 Jahren hat sich die Zahl der Suizidopfer halbiert. Der Rückgang der Suizide dürfte vor allem darauf zurück zu führen sein, dass mehr Menschen mit Depressionen und  anderen psychischen Erkrankungen sich Hilfe holen und eine Diagnose bzw. Behandlung erhalten. Aufgrund von Wissensdefiziten, Stigmatisierungen, der krankheitsbedingten Antriebs- und Hoffnungslosigkeit sowie vor allem auch Defiziten im Gesundheitssystem bestehen jedoch weiter große Versorgungslücken. „Wichtig zur Suizidprävention ist, die Versorgungssituation psychisch erkrankter Menschen in Deutschland zu verbessern. Es ist völlig inakzeptabel, dass ein suizidgefährdeter Mensch oft erst nach Wochen oder Monaten
einen Facharzttermin oder Platz in der Klinik bekommt. Wir brauchen dringend kürzere Wartezeiten. Darauf wurde bisher nicht genug Augenmerk gerichtet.“ so Hegerl weiter.

Hinweis an die Redaktionen:

Die Berichterstattung über Suizide ist mit einer besonderen Verantwortung verbunden, damit es nicht zu Nachahmungen kommt (Werther-Effekt). In einem Medien-Guide hat die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention die wichtigsten Regeln zur Berichterstattung über Suizide zusammengefasst. Sie finden die Richtlinien hier:
www.deutsche-depressionshilfe.de/presse-und-pr/berichterstattung-suizide

Über die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention:
Depression erforschen – Betroffenen helfen – Wissen weitergeben
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention hat sich die bessere Versorgung depressiv erkrankter Menschen und die Reduktion der Suizide in Deutschland zum Ziel gesetzt. Vorstandsvorsitzender ist Prof. Dr. Ulrich Hegerl. Die Schirmherrschaft hat der Entertainer und Schauspieler Harald Schmidt übernommen. Neben Forschungsaktivitäten bietet die Stiftung Betroffenen und Angehörigen unter ihrem Dach vielfältige Informations- und Hilfsangebote wie das deutschlandweite Info-Telefon Depression. In 90 Städten und Kommunen haben sich Bündnisse gebildet, die auf lokaler Ebene Aufklärung über die Erkrankung leisten. Die Arbeit erfolgt pharma-unabhängig.
www.deutsche-depressionshilfe.de

Quellen

Hegerl, U., Heinz, I., O’Connor, A., & Reich, H. (2021). The 4-Level Approach: Prevention of Suicidal Behaviour Through Community-Based Intervention. Front. Psychiatry, 12: 760491.

Hegerl, U., Maxwell, M., Harris, F., Koburger, N., Mergl, R., Székely, A., Arensman, E., Van Audenhove, C., Larkin, C., Toth, M. D., Quintão, S., Värnik, A., Genz, A. [ … ], on behalf of The OSPI-Europe Consortium (2019). Prevention of suicidal behaviour: Results of a controlled community-based intervention study in four European countries. PLoS ONE, 14(11): e0224602.

Linskens, E. J., Venables, N. C., Gustavson, A. M., Sayer, N. A., Murdoch, M., MacDonald, R., Ullman, K. E., McKenzie, L. G., Wilt, T. J., & Sultan, S. (2022). Population- and community-based interventions to prevent suicide: A systematic review. Crisis, 44(4), 330-340.

Statistisches Bundesamt (2023). Todesursachenstatistik: Sterbefälle nach äußeren Ursachen und ihren Folgen. https://www.gbe-bund.de