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Was ist ein Lebensjahr wert? Ein internationaler Vergleich
Ob eine medizinische Maßnahme von den Kassen erstattet wird, hängt in vielen Ländern von der ökonomischen Bewertung ihres Kosten-Nutzen-Verhältnisses ab. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die zugrundeliegenden Werturteile transparent und ethisch vertretbar sind. Zu den international gebräuchlichen Referenzpunkten zählt der sogenannte „Wert eines statistischen Lebensjahres“. Wissenschaftler am Deutschen Krebsforschungszentrum haben nun die Zahlungsbereitschaft für ein statistisch gewonnenes Lebensjahr im internationalen Vergleich ermittelt*: Sie liegt in Europa im Mittel bei 158.448 Euro oder etwa dem Fünffachen des BIP/Kopf und damit deutlich über den bislang gebräuchlichen Referenzwerten.
Nr. 34 4. Juni 2018 (Koh)
Wovon hängt es ab, ob ein neues medizinisches Verfahren in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen wird? In Deutschland wird dazu in der Regel der klinische Zusatznutzen in einem aufwendigen Verfahren nach strengen Standards evaluiert. Die mit der Einführung des Verfahrens verbundenen Kosten werden dagegen bislang nicht systematisch berücksichtigt; ebenso wenig werden die erst einmal in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommenen Verfahren einer Kosten-Nutzen-Bewertung unterzogen.
Um etwa bei der Preisfindung für Medikamente und medizinische Verfahren Grenzen setzen zu können, ist ein Referenzwert erforderlich. International wird dazu oft der sogenannte „Wert eines statistischen Lebensjahres“ (VSLY) herangezogen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist es in Deutschland zumindest bislang nicht üblich, einem gewonnenen Lebensjahr einen Geldwert zuzuerkennen.
Gesundheitsökonomen um Michael Schlander am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) sind der Auffassung, dass es aus ethischen und sozialen Gründen keinen universellen, für alle denkbaren Situationen einheitlichen Wert eines statistischen Lebensjahres geben kann. Dennoch halten sie einen Ankerwert für nützlich, der die Präferenzen der Bürger reflektiert. Dafür gibt es in den Wirtschaftswissenschaften anerkannte Methoden**, die auf der beobachtbaren und messbaren Ermittlung der Zahlungsbereitschaft beruhen.
Doch wo liegt der aus ökonomischer Sicht „richtige“ Wert eines Lebensjahres? Michael Schlander und sein Team legen nun eine großangelegte Analyse der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur zur impliziten oder expliziten Zahlungsbereitschaft für die Verringerung lebensverkürzender Risiken vor. Sie werteten alle 120 ökonomischen Studien aus, die von 1995 bis 2015 publiziert worden sind und einen mit empirischen Verfahren ermittelten Schätzwert berichten.
Aus diesen Studien lässt sich ein internationaler Mittelwert (Median) von 164.409 Euro ableiten. Dabei treten erwartungsgemäß erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Weltregionen auf: So lag der Wert in Asien bei 43.000 Euro, in Europa bei 158.448 Euro, für Deutschland bei 173.868 Euro und in Nordamerika erreichte er sogar 271.179 Euro.
Die Werte der einzelnen Länder wurden über den Vergleich der Kaufkraft in Euro umgerechnet. Da die reinen Zahlenwerte nicht ohne weiteres vergleichbar sind, rechneten Schlander und Kollegen sie auf das jeweilige Bruttosozialprodukt (BIP) pro Kopf um. Auch nach dieser Normierung blieben signifikanten Unterschiede zwischen den Weltregionen bestehen: Während Asien und Europa mit einer Zahlungsbereitschaft für ein gewonnenes Lebensjahr mit dem 5,1-fachen bzw. 5,2-fachen des BIP/Kopf etwa gleichauf lagen, waren US-Amerikaner und Kanadier bereit, das 6,9-fache des BIP/Kopf für eine gewonnenes Lebensjahr zu investieren.
Die so ermittelten Werte entsprechen einem Vielfachen der in der Gesundheitsökonomie derzeit üblichen Standards: So werden in England beispielsweise im Regelfall nur 20.000 bis 30.000 Pfund angesetzt, eine viel zitierte Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation liegt beim ein- bis dreifachen des BIP pro Kopf.
„Wirklich zwingende Erklärungen dafür, warum Nordamerikaner mehr für ein gewonnenes Lebensjahr zu zahlen bereit sind als der Rest der Welt, haben wir nicht“, sagt Michael Schlander. Allerdings sei aus internationalen Vergleichsstudien bekannt, dass in Ländern mit einem höheren verfügbaren Einkommen die Akzeptanz höherer Gesundheitsausgaben überproportional zunehme.
Welche Bedeutung hat die Ermittlung des VSLY nun tatsächlich für Entscheidungen im Gesundheitsbereich? „In letzter Konsequenz sagen viele Gesundheitsökonomen: Eine medizinische Leistung, die einem Patienten ein zusätzliches Lebensjahr bringt, darf die Zahlungsbereitschaft für ein VSLY nicht überschreiten“, so Michael Schlander und fasst zusammen: „Auch wenn wir die zahlreichen Limitationen der Methoden und die starke Streuung der Studienergebnisse berücksichtigen, so liefert unsere Untersuchung doch Hinweise darauf, dass die derzeit in vielen Ländern verwendeten Richtgrößen für den VSLY deutlich zu niedrig angesetzt sind. Unsere Ergebnisse könnten als Richtwerte dabei helfen, die Kosteneffektivität von medizinischen Leistungen zu beurteilen. Dies betrifft derzeit besonders jene Ländern, die medizinische Maßnahmen nach dieser Logik bewerten.“
*Michael Schlander, Oliver Schwarz, Diego Hernández, Ramon Schaefer: The Search for a Cost Effectiveness Standard: 1-3 Times GDP/Capita? Wissenschaftliche Präsentation, HTAi 2018 Annual Meeting, Vancouver / BC, Kanada, 01. bis 05. Juni 2018; www.htai2018.org
**Direkte und indirekte Messung der Zahlungsbereitschaft
Um die Zahlungsbereitschaft zu ermitteln, verwenden Ökonomen heute zwei verschiedene Ansätze. Bei den methodisch anspruchsvolleren Studien werden Menschen befragt, wieviel sie für eine Maßnahme zu zahlen bereit sind, die ihr Sterblichkeitsrisiko senkt, beispielsweise für die Anschaffung eines Airbags für das Auto. Natürlich funktioniert diese Methode nur, wenn die Reduktion des Sterblichkeitsrisikos genau beziffert werden kann. Der andere Ansatz beruht auf indirekten Methoden, die Zahlungsbereitschaft wird aus beobachtetem Verhalten abgeleitet. Die Ökonomen untersuchen beispielsweise, um wieviel höher der Arbeitslohn ausfallen muss, damit Menschen eine riskantere Beschäftigung annehmen.
Aus der Zahlungsbereitschaft für ein „statistisches Leben“ leiteten Schlander und Kollegen anhand des Alters der Studienteilnehmer sowie der Sterbetafeln der jeweiligen Länder den Wert für ein statistisches Lebensjahr ab, ohne dabei die Lebensqualität explizit zu berücksichtigen.
Diese Methoden sind nicht frei von spezifischen Limitationen. So gilt z.B. bei der Lohnkompensation für höhere Risiken: Der Arbeitnehmer muss vollständig über die Risiken aufgeklärt sein, uneingeschränkt mobil sein und die beiden Arbeitsplätze müssen bis auf die unterschiedlichen Risiken als identische eingeschätzt werden – es wird also eine idealisierte Situation vorausgesetzt. Umso wichtiger ist es, bei solchen Berechnungen nur methodisch sehr hochwertige Studien zu berücksichtigen.
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krebsinformationsdienstes (KID) klären Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise über die Volkskrankheit Krebs auf. Gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Heidelberg hat das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg eingerichtet, in dem vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik übertragen werden. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums ist ein wichtiger Beitrag, um die Chancen von Krebspatienten zu verbessern. Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.