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EU-Projekt erforscht neue Verwertungsmöglichkeiten von Zucker
Erhöhtes Gesundheitsbewusstsein der Konsumenten und der Wegfall der Zuckermarktordnung bringen in Europa eine Zuckerüberproduktion von 300.000 Tonnen pro Jahr mit sich. Das Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) und die Technische Universität Graz (TU Graz) entwickeln im EU-Projekt CARBAFIN neue Plattformtechnologien zur alternativen biotechnologischen Nutzung von Zucker. Neue Wertschöpfungsketten werden erschlossen und Europas international führende Rolle in der Zuckerherstellung ausgebaut, Beschäftigung gesichert und die Natur geschont. Projektpartner sind Industrieunternehmen Pfeifer & Langen , die bitop AG oder AVA Biochem. CARBAFIN hat ein Volumen von 6,1 Millionen Euro.
Der Fall der Zuckerquote, die bisher in Europa die Produktion sowie den Export und Import reglementiert hat, geringerer Zuckerverbrauch und steigende Produktionszahlen lassen die Zuckerberge anwachsen und Preise sinken. Industrie und Landwirtschaft sind daher auf der Suche nach alternativen Verwertungsmöglichkeiten für Zucker. Das mit 01. Jänner 2018 startende EU- Projekt CARBAFIN setzt sich zum Ziel, bio-basierte Plattform-Technologien für die Herstellung zucker- modifizierter Produkte im industriellen Maßstab zu etablieren.
Vom „Fettmacher“ zum gesundheitsfördernden Wirkstoff und Erdöl-Ersatz
Durch innovative biokatalytische Glykosylierungsprozesse und den daraus hervorgehenden Produkten werden nachhaltige Anwendungen etwa bei Nahrungs- und Futtermitteln, Kosmetik, Reinigungsmitteln sowie biobasierten Polymeren ermöglicht. Einerseits sorgen die neuen Prozesse für bessere Wirkstoffe etwa in der Kosmetik-, Nahrungs- und Futtermittelindustrie, andererseits wird die Fruktose, der zweite Bestandteil der im Glukosylierungsprozess anfallenden Saccharose, immer wichtiger als petrochemischer Ersatzstoff zur Herstellung von Harzen, Farben, Klebstoffen, Biokraftstoffen oder Bio-Polymeren. Dabei werden ganz neue Wertschöpfungsketten für die Verwendung überschüssiger Saccharose aus Zuckerrüben in Europa geschaffen.
Das CARBAFIN-Projektkonsortium, unter Koordination des Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) und der TU Graz, führt die hohe Erfolgsquote österreichischer Projekteinreichungen in EU-Forschungsprogrammen fort.
Bedeutung für die heimische Wirtschaft
„Das Projekt CARBAFIN zeigt einmal mehr die herausragende Position der Steiermark als Forschungs- und Innovationsland und die Qualität der heimischen Kompetenzzentren. Hier entwickeln Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen gemeinsam Technologien für die Zukunft. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist der Hauptgrund dafür, dass die Steiermark mit Abstand das Forschungsland Nummer eins in Österreich ist und auch in
Europa an der Spitze steht. Das Projekt stärkt auch die heimische Wirtschaft und ist damit ein Motor für Wachstum, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Steiermark“, so Wirtschafts- und Wissenschaftslandesrätin Barbara Eibinger-Miedl.
Horst Bischof, Vize-Rektor der TU Graz, betont den Wissenstransfer zwischen Universitäten und Forschungseinrichtungen und lobt die jahrelange Zusammenarbeit der TU Graz mit dem acib: „Neuland betreten, Erkenntnisse gewinnen und umsetzen ist ein grundlegender Anspruch von Forschung. Darüber hinaus setzt die TU Graz gemeinsam mit starken Partnern auch auf den Transfer der daraus entstehenden Innovationen in die Wirtschaft. Die Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft wird intensiv in Kompetenzzentren gelebt, und acib ist ein starker Partner der TU Graz. Kompetenzzentren sind ein ideales Vehikel für die Akquisition von EU-Projekten. Mit CARBAFIN konnte ein weiteres hoch dotiertes EU-Projekt nach Graz geholt werden. Dies ist mehr als erfreulich und stärkt den Standort sowie die Zusammenarbeit des acib mit der TU Graz.“
Die Bedeutung der exzellenten Forschungslandschaft, gepaart mit den ausgezeichneten Technologie- und Produktionsfähigkeiten regionaler Wirtschaftsbetriebe, streicht auch Johann Harer, Geschäftsführer des steirischen Humantechnologie-Clusters, hervor. Sowohl das acib als auch die TU Graz sind Mitglieder des Clusters. „Die Steiermark als internationale Drehscheibe für diese Zukunftsplattformtechnologien von CARBAFIN zu etablieren und sichtbar zu machen, wird auch das Bestreben des Humantechnologieclusters sein. Wir sind stolz, dass sich die Pharma- und Biotechnologie – insbesondere in den Bereichen Forschung und Engineering – in den vergangenen Jahren als eines der zukunftsweisenden Stärkefelder in der Steiermark herauskristallisiert hat“, sagt Harer.
Ende der Zuckerquote, steigende Produktionszahlen und sinkender Zuckerverbrauch
Die europäische Zuckerindustrie, weltweit führend in der Zuckerherstellung aus Zuckerrüben, ist mit einschneidenden Veränderungen konfrontiert. Die Zuckermarktregelung, die seit 1968 die Produktion und den Export/Import reglementiert, lief mit Ende September 2017 aus. Saccharose aus europäischen Zuckerrüben bekommt zunehmend Konkurrenz von Saccharose aus Zuckerrohr und Isoglucose, einem billigen Glukose/Fruktose-Gemisch. Auch soziale Entwicklungen spielen eine Rolle: Das erhöhte Gesundheitsbewusstsein der Konsumenten führt zu sinkenden Zahlen beim Konsum von Zucker. Für Industrie und Landwirte, die mit sinkendem Profit konfrontiert sind, kein Zuckerschlecken: Mehr als 180.000 Menschen sind direkt oder indirekt über die Zuckerrübenindustrie in über 20 EU-Mitgliedsstaaten beschäftigt.
Alternative Nutzungs- und Anwendungsmöglichkeiten von Zucker durch CARBAFIN
Die in CARBAFIN entwickelten biokatalytischen Produktionstechnologien eröffnen der europäischen Zuckerindustrie und beteiligten Partnern neue, innovative Nutzungsmöglichkeiten von Zuckerbestandteilen. „Wir nutzen die beiden Grundbausteine der Saccharose – Glukose und Fruktose –, um daraus völlig neue, hochwertige Produkte zu machen“, erklärt Prof. Bernd Nidetzky, CSO und Projektkoordinator am acib.
Mithilfe des biokatalytischen Prozesses der Glukosylierung wertet CARBAFIN Produkte auf und stellt sie in industriell relevanten Mengen zur Verfügung. „Mithilfe eines Biokatalysators übertragen wir die Glukose auf ein anderes Molekül. Die so entstehenden glukosylierten Verbindungen zeigen verbesserte Eigenschaften wie spezielle biologische Wirksamkeit, bessere Wasserlöslichkeit oder höhere Stabilität“, erklärt Nidetzky. Ein Beispiel für ein glukosidisches Produkt ist Cellobiose, dessen Herstellung in den letzten Jahren bei CARBAFIN-Projektpartner Pfeifer & Langen GmbH & Co. KG entwickelt wurde. „Dieses funktionale Disaccharid wird über ein aktiviertes Glucosemolekül aus Saccharose und Glucose enzymatisch hergestellt und besitzt umfangreiche Anwendungsmöglichkeiten im Lebensmittelbereich“, erklärt Thomas Häßler, Gruppenleiter Biotechnologie bei Pfeifer & Langen. „Je nach Stoffgruppe finden Glukoside neben der Nahrungs- und Futtermittelindustrie außerdem Anwendung als funktionelle Zusätze oder lösliche Faser- bzw.
Ballaststoffe in Kosmetikartikeln oder dem Reinigungssektor“, weiß Christiane Luley, Forscherin am acib.
Fruktose zu Plattformchemikalien und Bioplastik weiterverarbeitet
Im Glukosylierungsprozess fällt in gleichen Mengen neben dem glukosidischen Produkt auch Fruktose an – der zweite Baustein von Saccharose. „Neben ihrer Verwendung als Süßungsmittel wird Fruktose auch in nicht-lebensmittelbezogenen Bereichen immer wichtiger für die Industrie – Stichwort petrochemische Ersatzstoffe. Aus Fruktose kann HMF (Hydroxymethylfurfural) erzeugt werden, eine wirtschaftlich hoch relevante Plattformchemikalie für Bereiche wie Harze, Farben, Klebstoffe, Biokraftstoffe oder Bio-Polymere.
HMF kann außerdem zum Oxidationsprodukt FDCA (2,5-Furandicarbonsäure) weiterverarbeitet werden. Im Jahr 2004 wurde FDCA vom US Department für Energie sogar als eine der 12 wichtigsten Next-Generation-Plattformchemikalien der Welt klassifiziert. Sein größtes Potenzial liegt im Plastikverpackungsmarkt: „Zu 100% biobasiertem PET-Ersatz verarbeitet, lassen sich ‚grüne‘ Plastiktrinkflaschen herstellen“, erklärt Gilbert Anderer vom an CARBAFIN beteiligten Schweizer Spezialchemikalienherstellers AVA, Weltmarktführer in der HMF-Produktion.
Nachhaltig im Sinne einer bio-basierten Ökonomie
Ziel ist, das Wirtschaftswachstum durch die industrielle biotechnologische Herstellung innovativer glykosylierter Produkte anzukurbeln und neue Wertschöpfungsketten im Sinne einer nachhaltigen, bio-basierten Wirtschaft zu ermöglichen. Das soll die Natur langfristig schonen. „Im Vergleich zur chemischen Synthese produzieren enzymatische Reaktionen fünfmal weniger Abfälle. Da in CARBAFIN beide wertvollen Bestandteile der Saccharose weiterverarbeitet und kosteneffiziente Up- und Downstream-Prozesse etabliert werden, wird eine Senkung der Produktionskosten um 30% erwartet. „Indem wir der Industrie eine Plattform-Glykosylierungstechnologie mit laufender Prozess- und Qualitätskontrolle zur Verfügung stellen, wird es zukünftig leichter und schneller möglich, unterschiedliche glukosylierte Produkte auf den Markt zu bringen“, so Barbara Petschacher, Forscherin an der TU Graz. Herausforderung und Vorgabe ist, im Projektverlauf die Produktionskapazität in den industriellen Maßstab zu heben.
Ganzheitliche Kreislaufwirtschaft und Schaffung neuer Arbeitsplätze
CARBAFIN trägt einen wesentlichen Teil zum EU-Forschungsprogramm „Industrie 2020 in der Kreislaufwirtschaft“ bei. Die ökonomische und ökologische Machbarkeit des Prozesses soll im Zuge eines Life-Cycle-Assessment über den gesamten Produktzyklus optimiert und bewertet werden. Besonderes Augenmerk gilt der Bewusstseinsbildung der Endkonsumenten im Bereich Biotechnologie. Die in CARBAFIN entwickelten Geschäftsmodelle sollen zudem Marktchancen und Produktionskapazitäten für europäische Unternehmungen erhöhen. Häßler dazu: „Durch den Ausbau bestehender und durch die Erschließung neuer Verwertungswege der Saccharose möchte die Pfeifer & Langen GmbH & Co. KG die europäische Agrarwirtschaft im Rübenanbau nachhaltig festigen.“ Aus diesen Maßnahmen abgeleitet, lässt sich auf lange Sicht die Schaffung von 500 bis 1.000 Arbeitsplätzen prognostizieren.
CARBAFIN leistet somit einen wichtigen Beitrag, um die weltweit führende Rolle Europas in der industriellen Biotechnologie zu festigen und Europas Position als Innovationsführer im Bereich zucker-basierender Produkte zu sichern, hieß es in der 1m 14. November im Rahmen des European Summit of Industrial Biotechnology (esib) in Graz stattfindenden Pressekonferenz.