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Ist COVID-19 ein Motor für Gendermedizin?
Das Geschlecht hat einen signifikanten Einfluss auf den Ausgang von COVID-19. Die Datenlage zur Erforschung von Genderunterschieden ist allerdings nach wie vor schlecht, was oft zu falschen oder vorschnellen Schlüssen führt. Was dagegen zu tun wäre, erklären der ÖAW-Demograf Tomas Sobotka und die ÖAW-Infektiologin Sylvia Knapp.
Eine Infektion mit SARS-CoV-2 verläuft bei Männern häufiger tödlich als bei Frauen. Laut internationalen Studien haben Männer ein beinahe dreifaches Risiko, eine intensivmedizinische Behandlung zu benötigen. Weltweit treten rund 60 Prozent der Todesfälle bei Männern auf. Soweit die Fakten. Aber bedeutet das auch, dass sich Männer leichter infizieren als Frauen? Und trifft das auf alle Altersgruppen und Sozialschichten gleichermaßen zu?
NICHT NUR GESCHLECHT, AUCH ALTER RELEVANT
Tomas Sobotka vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) war am Forschungsprojekt „Gender Differences in Covid-19 Pandemic in Europe“ beteiligt. Gemeinsam mit Kolleg/innen von IIASA und Universität Wien wurden die Unterschiede bei Infektionen in sieben europäischen Ländern analysiert. Sobotka betont die Wichtigkeit, sich nicht allein auf das Geschlecht zu konzentrieren. „Oft ist das Verhältnis von Alter und Geschlecht aussagekräftiger“, so Sobotka: „Wir haben gesehen, dass Frauen zwischen 20 und 59 Jahren ein deutlich höheres Risiko haben, sich zu infizieren. Das mag auch daran liegen, dass sie vermehrt in exponierten Berufen wie Pflege, Gesundheit oder Handel tätig sind.“ Daten aus den Niederlanden sowie Großbritannien zeigen auch, dass sich Frauen in dieser Lebensphase häufiger auf COVID-19 testen lassen.
„Wir wissen zudem, dass Frauen ein höheres Problembewusstsein haben und mehr hinter den Schutzmaßnahmen wie Masken, Händewaschen und Abstandhalten stehen“, sagt Infektiologin Sylvia Knapp vom CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin der ÖAW: „Grundsätzlich aber gibt es viel zu wenig Daten, die auf Geschlechterunterschiede Rücksicht nehmen. In Europa haben nur 14 Länder geschlechtsspezifische Daten aus Testungen zur Verfügung gestellt. Und, falls es doch Daten gibt, werden diese viel zu selten öffentlich gemacht. Auch Impfstudien sind oft nicht nach Geschlecht differenziert.“
ÖSTROGEN ALS SCHUTZFAKTOR
Eine andere zentrale Frage, die Wissenschaftler/innen beschäftigt: Gelingt es Frauen besser, sich gegen SARS-CoV-2 zu wehren? „Östrogen ist ein starker Schutzfaktor, das weibliche Immunsystem ist besser gerüstet, die Viruslast niedrig zu halten“, sagt Knapp: „Frauen scheinen eine robustere und schnellere Interferon-Antwort zu haben, das sind Moleküle, die dafür sorgen, dass sich Viren schlechter vermehren können. Zudem weisen Frauen eine aktivere T-Zell- und B-Zell-Antwort auf, die auch dazu führt, dass mehr spezifische Antikörper produziert werden.“ Das scheint auch ein Grund zu sein, warum Frauen stärker auf einige Impfstoffe ansprechen.
Die männlichen Patienten haben eine verzögert einsetzende Immunantwort, was die Gefahr einer starken Virusvermehrung und schließlich einer überschießenden Entzündungsreaktion zur Folge haben kann. Dabei werden Zytokine, das sind Signalmoleküle, die Immunzellen Richtung Entzündung schicken, ausgeschüttet, die bei schweren COVID-19-Fällen kontraproduktiv sind, weil sie einen „Zytokinsturm“ entfachen – also das Immunsystem zum Zwecke der Infektionskontrolle „überreagieren“ lassen.
Allerdings scheinen Frauen häufiger von „Long Covid“ betroffen zu sein, also den Spätfolgen, die von Atemnot, Müdigkeit bis zu Kopfschmerzen und Gedächtnisverlust reichen können. Ein möglicher Grund dafür ist, dass Frauen meist ein aktiveres Immunsystem haben und deshalb auch leichter Autoimmunerkrankungen entwickeln.
„Eine positive Nebenwirkung der aktuellen Pandemie ist, dass sie die Gendermedizin vorantreibt“, sagt Knapp: „Man muss mittlerweile bei allen Forschungsprojekten, die man einreicht, auch angeben, welche genderspezifischen Unterschiede man einbeziehen möchte. Das ist wichtig, um eine Sensibilisierung und Bewusstmachung zu erzielen. Dennoch, in vielen fertigen Forschungspublikationen fehlt die Aufschlüsselung der geschlechtsspezifischen Unterschiede trotzdem wieder. Ich hoffe, dass uns die offensichtlichen Geschlechterunterschiede bei COVID-19 hier zu einem Umdenken bewegen.“